Nr. 46 vom 8.11.2019

Nr. 46 vom 8.11.2019

Standpunkt

Anschlag auf ein Denkmal
der Demokratie und der freien Rede

Rohe Niedertracht oder ignorante Ahnungslosigkeit? Höchstwahrscheinlich beides. Beim Anschlag auf das Burschenschaftsdenkmal in der Wartburgstadt Eisenach in der Nacht vom 28. auf den 29. Oktober wurden im Inneren des Gebäudes auch die Tafeln zu Heinrich Riemann und Lorenz Oken beschädigt. Es hat allen Anschein, dass linksextreme Demokratiefeinde mit dem Anschlag ihre Wut auf das gute Ergebnis der AfD bei der Thüringer Landtagswahl abreagierten. In der Nacht von Montag auf Dienstag nach der Wahl wurde der Denkmalkomplex massiv beschädigt. Das Gebäude wurde mit Farbe beschmiert und die schwere Eisentür des begehbaren Denkmals verklebt. Darüber hinaus zerstörte ein Wurfgeschoss ein Fenster, sodass auch der Innenraum inklusive des Deckengemäldes beschädigt wurde.

„Die Ausmaße dieses feigen Angriffs stellen uns unter Schock“, teilte die Deutsche Burschenschaft mit. „In Zeiten, zu denen Verbindungsstudenten jeglicher Couleur, ihre Häuser und Gedenkstätten immer wieder Ziele solcher Angriffe werden, gilt es, zusammenzuhalten.“ Die Sanierungskosten sollen sich im fünfstelligen Bereich bewegen. Von 40.000 Euro war zuletzt die Rede. Zur Beseitigung der Schäden durch den Anschlag rief die DB zu Spenden für den Denkmalerhaltungsverein auf. Außerdem lobte sie eine Belohnung von 15.000 Euro aus für Hinweise zur Aufklärung der Tat. Ein Überwachungsvideo zeigt sieben Gestalten, und auf der linksextremen Plattform „Indymedia“ tauchte mittlerweile ein Bekennerschreiben auf, das in der Drohung „Wir kriegen euch alle“ gipfelt.

Anstandslos

Den Zweiten Weltkrieg hatte das 1902 auf einem Hügel gegenüber der Wartburg eingeweihte Burschenschaftsdenkmal halbwegs unbeschadet überstanden. Zu Zeiten des SED-Regimes, das Studentenverbindungen unterdrückte, war es dann Zerstörung, dem Verfall und sogar Plänen zur Sprengung ausgesetzt. Nach der Wende wieder im Besitz der Deutschen Burschenschaft, wurde es umfangreich restauriert. Daran beteiligte sich auch das Land Thüringen, „galt es doch ein Kulturgut zu retten, das an die Freiheitsbewegung der akademischen Jugend im 19. Jahrhundert erinnert, die von der Wartburg und Jena ausging“, wie der Denkmalerhaltungsverein einmal schrieb.

Die Täter zeigten also weder Respekt vor dem kulturellen Erbe noch Ehrfurcht vor den Toten – auch die Langemarck-Gedenkstätte wurde beschmiert; im Denkmal selbst sind die Namen der 1870/71 gefallenen 87 Burschenschafter verewigt – noch Achtung vor der Kunst. Die Jugendstilfenster und das erst vor wenigen Jahren vollständig restaurierte Fresko, das die „Götterdämmerung“ darstellt, sind Werke von Prof. Otto Gussmann (1869–1926), der ein Vorreiter des Expressionismus und Mitglied der Dresdner Sezession sowie des avantgardistischen Künstlervereins „Die Brücke“ war.

Riemann und Oken

Neben jeglichem Anstand entbehren die Täter offenbar auch geschichtlicher Bildung. Oder wussten sie, welche historischen Persönlichkeiten mit Riemann und Oken hier ihrer Zerstörungswut schutzlos ausgeliefert waren?

Der Theologe Heinrich Riemann (1793–1872), als Lützower Jäger Freiwilliger der Befreiungskriege, gehörte 1815 zu den Gründern der Urburschenschaft und wurde deren erster Sprecher. 1817 trat er als Redner auf dem Wartburgfest auf. An der Ausarbeitung der „Grundsätze und Beschlüsse des 18. Oktober“ war Riemann federführend beteiligt. Dieses radikaldemokratische Manifest verschrieb sich nicht nur der deutschen Einheit, sondern nahm auch Menschen- und Bürgerrechte vorweg, die in den Verfassungen von 1849, 1919 und 1949 wieder aufgenommen wurden, so die Unverletzlichkeit der persönlichen Freiheit, Religionsfreiheit und Meinungs- und Pressefreiheit.

Riemann, Opfer der Demagogenverfolgung nach den Karlsbader Beschlüssen, wurde 1848 Abgeordneter im ersten demokratischen Landtag von Mecklenburg und war zur selben Zeit Verfechter der Reichsverfassungskampagne mit dem Ziel, der Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849 Anerkennung zu verschaffen.

Über den Biologen und Philosophen Lorenz Oken (1779–1851) schrieb der Hirnforscher und Wissenschaftshistoriker Prof. Olaf Breidbach in dem Band „Lorenz Oken. Ein politischer Naturphilosoph“ (2001): „Seine Bedeutung für die Wissenschaftsorganisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts – insbesondere in Blick auf die Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte ist kaum zu überschätzen.“

Okens Rede auf dem Wartburgfest war „eher ruhig und besonnen“, hält der Historiker Klaus Ries im selben Band fest. Die anwesenden Studenten mahnte Oken, sie sollten „nichts anderes werden als gebildete Deutsche, die sich alle gleich sind und deren Geschäft überall frei ist“. Und: „Nur das geziemt euch zu überlegen, wie ihr einst im Staat handeln sollt und wie ihr euch dazu würdig vorbereitet.“ Politisch habe Oken „ganz im Mainstream des deutschen Frühliberalismus“ gestanden, „der die Gesamtgesellschaft und eben nicht einen Teil davon repräsentieren will“, ordnet Prof. Ries ein.

Trotz Geldstrafen und Gefängnisdrohung im Anschluss an den Auftritt in Eisenach veröffentlichte Oken, Professor in Jena, weiter politische Artikel in seiner Zeitschrift „Isis“. Im Mai 1819 wurde er schließlich vor die Wahl gestellt: Lehrstuhl oder Zeitung. Am 1. Juni erfolgte seine Entlassung. Letztlich führte ihn sein Weg in die Schweiz, wo er erster Rektor der Züricher Universität wurde.

Thema Meinungsfreiheit

Überregionalen Medien war die Beschädigung des Burschenschaftsdenkmals übrigens keine Erwähnung wert. Das ist umso erstaunlicher, als es erstens „dem geeinten Vaterlande“ gewidmet ist, also anlässlich des 30. Jahrestags des Mauerfalls eine besondere Bedeutung hat. Zweitens haben sich in der Woche danach „Spiegel“, „Frankfurter Allgemeine“ und die „Zeit“ des Themas Meinungsfreiheit angenommen. Da wäre die Aufarbeitung einer politisch motivierten Sachbeschädigung, noch dazu an einem Denkmal für die Vorreiterbewegung von Demokratie und freier Rede, gut aufgehoben gewesen.

Amelie Winther

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 8. November 2019

RÜCKT TÜRKIS-„GRÜN“ NÄHER?

ÖVP-Chef Sebastian Kurz und Werner Kogler von den „Grünen“ zeigen sich zufrieden mit ihren Sondierungsgesprächen. Doch einen Knackpunkt gibt es, den Kurz vor allem mit Blick auf künftige Wahlen nicht unterschätzen darf: die unterschiedlichen Vorstellungen zur Migrationspolitik.

RUMOREN IN DER CDU

Das Wahldesaster in Thüringen lässt Annegret Kramp-Karrenbauers CDU-Chefsessel mehr denn je wackeln. Ihre innerparteilichen Gegner sind in Stellung. Wie wird sich die angeschlagene Partei-Vorsitzende auf dem Parteitag am 23. November in Leipzig positionieren?

AUSSER RAND UND BAND

Etablierte Politiker und Medien hatten einiges unternommen, um die AfD kurz vor der Landtagswahl in Thüringen zu dämonisieren und als unwählbar erscheinen zu lassen. Nachdem das nicht funktionierte, fallen nun bei manchem alle Hemmungen. Die krassesten Fälle.

BRITISCHE NEUWAHLEN

Premierminister Boris Johnson hat seinen Wunschtermin bekommen: Am 12. Dezember wählt Großbritannien ein neues Parlament. Derzeit liegen die Tories in Umfragen weit vor der Labour Party. Dennoch: Johnson kann für seine Brexit-Pläne mit der Neuwahl viel gewinnen – aber auch verlieren.

EIN HOCHSTAPLER UND SEIN ANWALT

„Spiegel“-Fälscher Claas Relotius will gegen Falschaussagen klagen. Das klingt wie Satire, ist es aber nicht, wie jetzt Juan Moreno, Autor des Buches „Tausend Zeilen Lüge“ und Aufdecker des Skandals, zu spüren bekommt. Welche Strategie verfolgen Relotius und sein Anwalt?

KATALANISCHE DAUERKRISE ESKALIERT

In Barcelona kam es in den vergangenen Wochen immer wieder zu heftigen Protesten von Unabhängigkeitsbefürwortern, die auch über die am 10. November stattfindenden spanischen Parlamentswahlen hinaus anhalten könnten. Warum die Lage so explosiv ist.

WAS TUN GEGEN
BODENVERSIEGELUNG?

Die zunehmende Oberbodenversiegelung ist ein Problem, das unter den Nägeln brennt. Allein im Freistaat Bayern liegt der Flächenverbrauch laut Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz bei täglich 11,7 Hektar, was in etwa der Fläche von 17 Fußballfeldern entspricht. Was bewirkt die „Flächensparoffensive“ der Regierung in München?

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Nr. 45 vom 1.11.2019

Nr. 45 vom 1.11.2019

Standpunkt

Wie stirbt ein Hund?
Zu Trumps Tonlage

Donald Trump meint, dass der Tod von IS-Chef Abu Bakr al Bagdadi die Welt zu einem „viel sichereren Ort gemacht“ habe. Die US-Denkfabrik Rand Corporation hingegen vertritt die Ansicht, dass solche Schläge gegen die Köpfe von Terrororganisationen sogar kontraproduktiv sein können, weil sie Sympathien für die Organisation außerhalb ihres Unterstützerkerns wecken könnten.

Die Fotos aus dem Lageraum

Was der Fall ist und welcher Effekt überwiegt, hängt sicher auch von den Umständen ab. Wenn der Präsident das von ihm angeordnete Geschehen im „situation room“ des Weißen Hauses verfolgen wollte, ist dies nachvollziehbar, soweit er in der Lage sein wollte, plötzlich eine Entscheidung zu treffen. Die Zurschaustellung vermeintlicher Allmacht, die in der Veröffentlichung der Bilder aus dem Raum liegt, auf denen fünf beziehungsweise sechs Männer mit entschlossenen Mienen die Jagd auf Bagdadi aus sicherem Abstand wie ein Videospiel zu verfolgen scheinen, ist hingegen mehr als überflüssig. Erst recht, wenn die Bilder gar nicht während der Beobachtung des Angriffs entstanden, sondern gestellt sein sollten, worüber eine breite Diskussion im Netz geführt wird.

Eine Botschaft solcher Fotos, wie sie auch Obama bei der Tötung Osama bin Ladens veröffentlichen ließ, zielt natürlich auf den US-Wahlkampf. Die andere Botschaft ist eine Erneuerung der Aussage „Wir können alles sehen, was sich bewegt, und wir können alles zerstören, was wir sehen“, die Paul Wolfowitz, zur Zeit des 2003 begonnenen Irakkriegs stellvertretender US-Verteidigungsminister, traf.

Nun hat Donald Trump anders als George W. Bush, dem Wolfowitz untergeordnet war, bisher keinen Angriffskrieg geführt. Und es gibt die Hoffnung, dass zu Trumps vielen Untugenden tatsächlich nicht die in seiner Position mit weitem Abstand schlimmste – Kriegslust – zählt.

Gefährliche Rhetorik

Dass die Welt durch das Ende Bagdadis, der drei seiner Kinder mit in den Tod riss, zu einem sichereren Ort wurde, wird auch durch Trumps Rhetorik nicht wahrscheinlicher. Als er die Nachricht verkündete, sagte Trump, Bagdadi sei gestorben „wie ein Hund“. An wen richtete sich diese Aussage? In der islamischen Welt, in der der Hund (jedenfalls sein Speichel) im Allgemeinen als unrein gilt (aber Anspruch auf Mitgefühl und gute Behandlung hat), wird man sie mit gemischten Gefühlen aufnehmen. Manche werden darin eine unnötige Demütigung oder eine letztlich auf überlegenen Machtmitteln beruhende Überhebung sehen.

Man sollte nicht vergessen, wie Terroristen entstehen. Es ist nicht selten ein Prozess. Selbst der einst ruhige und unauffällige Bagdadi, der 1991 schon die B-52-Bombardements auf Bagdad erlebt hatte, wurde erst mit der US-Invasion im Irak und der anschließenden Internierung in Camp Bucca zu dem grausamen Schwerverbrecher, der er schließlich war.

Ob der amerikanische Wähler Sprüche wie „Sterben wie ein Hund“ schätzt? In vier von zehn US-Haushalten lebt mindestens ein Hund, in der Bundesrepublik sind es nur zwei von zehn. Jeder Hundehalter wünscht seinem Tier ein friedliches Ende – und nicht, in einem Tunnel in den Tod gehetzt zu werden.

Übrigens, ehe man über die islamische Haltung zum Hund ein Urteil wagt: Man kann nicht sagen, dass das Christentum in seiner Sphäre den Tieren die überfällige Erlösung gebracht hätte. Überwiegend gilt ein Tier (selbst bei der im Markus-Evangelium beschriebenen Heilung des Besessenen von Gerasa durch Jesus, die 2.000 Schweine mit dem Tod durch Ertrinken bezahlen müssen) als vernachlässigenswerte Größe. Persönlichkeiten wie der heilige Franz von Assisi sind die Ausnahme. Klabund schrieb über ihn in seinem Gedicht „Franziskus“:

„Die Tiere alle waren ihm vertraut
Und kamen treu auf seinen Ruf gesprungen. […]
Und ging er auf die Gasse, sprach das Pferd,
Der Hund ließ wedelnd seinen Knochen liegen.
Die Katze hielt ihn ihrer Freundschaft wert […].“

Wenn er nur keinen Krieg beginnt

Trump hat zu den Tieren wie zu vielem anderen offenbar eine unreflektierte Macht-euch-die-Erde-untertan-Haltung wie noch immer die Mehrheit der Menschen. Dass er in seiner groben Rhetorik vor des Amerikaners und Europäers Lieblingstier nicht Halt machte, war vermutlich keine Werbung. Andererseits, wenn er nur keinen Krieg beginnt, der die größte Katastrophe für Mensch und Tier, Natur und Klima bedeutete … Was hülfe ein pastoral auftretender US-Präsident, der jede Hintertür zum Kriege nutzt. Wir werden sehen.

Ulrich Wenck

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 1. November 2019

NACH DER THÜRINGEN-WAHL

Die AfD lieferte in Thüringen nicht das von Massenmedien erhoffte Ergebnis „unter 20 Prozent“, sondern wurde mit 23,4 Prozent zweitstärkste Kraft. Weder hat sich damit am 27. Oktober „die Demokratie neu sortiert“ – sie hat vielmehr wieder einen Beweis ihres Funktionierens abgeliefert – noch „erschüttert“ das Ergebnis die Republik.

GEFÄHRLICHE SCHAUMSCHLÄGEREI

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer will die Bundeswehr auf den nordsyrischen Kriegsschauplatz schicken. Ein riskanter Plan, hinter dem wohl auch parteipolitisches Kalkül steckt – ebenso wie hinter dem Auftritt von Außenminister Heiko Maas in der Türkei, der den AKK-Vorschlag öffentlich abkanzelte.

NEUES IM WETTLAUF UM AFRIKA

Am 23. und 24. Oktober fand in Sotschi der erste Russland-Afrika-Gipfel statt, an dem rund 40 afrikanische Staats- und Regierungschefs teilnahmen. Was bedeutet die vertiefte Partnerschaft für den Kontinent und die Welt?

RAUS AUS DER BREXIT-ZWICKMÜHLE

Am Montag verkündete EU-Ratspräsident Donald Tusk, dass die 27 verbliebenen EU-Staaten einem Brexit-Aufschub zum 31. Januar 2020 zustimmen. Allerdings kann Großbritannien die EU auch vorher verlassen – und die Briten wählen noch vor Weihnachten ein neues Parlament.

NOTFALL NOTAUFNAHME

Rekordwartezeiten und immer wieder auch aggressive Patienten: Die Notaufnahmen an bundesdeutschen Krankenhäusern sind heillos überlastet. Das Problem ist mittlerweile erkannt, eine zufriedenstellende Lösung aber steht aus.

„DÜRFEN DAS NICHT HINNEHMEN“

Wenn die AfD in der Vergangenheit Gewalt gegen ihre Vertreter angeprangert hatte, wurde ihr vorgeworfen, sich in eine „Opferrolle“ zu drängen. Jetzt aber, da auch Etablierte zunehmend ins Visier von Politgewalttätern geraten, ist die Aufregung groß. Jüngste Beispiele.

30 JAHRE MAUERFALL

Donnerstag, 9. November 1989: Es zeichnet besonders geschichtsträchtige Daten aus, dass man sich auch viele Jahre später noch genau erinnern kann, was man damals gerade getan hat. Wo waren Sie an Deutschlands Freudentag?

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Nr. 44 vom 25.10.2019

Nr. 44 vom 25.10.2019

Standpunkt

Starke europäische Bande

Der schottische Schriftsteller Thomas Carlyle – in Deutschland vor allem durch sein Buch „Geschichte Friedrichs II. von Preußen“ bekannt – formulierte mit der „Great Man Theory“ die vorrangig auf das Wirken einzelner Persönlichkeiten abstellende Richtung der Geschichtsphilosophie: „Die Weltgeschichte ist nichts anderes als die Biographie großer Männer“ – und natürlich Frauen, wie man ja nicht erst seit Jeanne d’Arc und Katharina der Großen ganz genau weiß. Wenn Carlyle heute nach Argumenten für seine Sichtweise suchen würde, könnte er sich den britischen Premierminister Boris Johnson nicht entgehen lassen. Wie auch immer das Tauziehen endet, selbst der „Spiegel“, der Johnson gerne als Verrückten abstempeln wollte, musste nun einräumen: „Johnson hat geschafft, was bis vor Kurzem noch für nahezu unmöglich gehalten wurde. Er hat der EU neue Zugeständnisse beim Brexit-Deal abgerungen – und es gibt eine reelle Chance, dass das britische Parlament dem Abkommen zustimmt.“ Tatsächlich hat das Unterhaus der „European Union Withdrawal Agreement Bill“ bei der zweiten Lesung am 22. Oktober 2019 abgesegnet (nicht aber Johnsons Zeitplan).

Es ist eine Banalität, doch angesichts der hysterischen Schwarzmalerei hielt es der englische Journalist und Intellektuelle David Goodhart für geboten, sie im Interview mit „Le Figaro“ vom 16. Oktober auszusprechen: „Großbritannien wird nach dem Brexit nicht im Meer versinken.“

Natürlich bleibt das Königreich ein Teil Europas, das ist nur denjenigen schwer begreiflich, die ein politisches Konstrukt mit einem geschichtsträchtigen und kulturreichen Kontinent mutwillig verwechseln. Die Briten bleiben die Briten, auch wenn – oder gerade weil – sie nun ihren eigenen Weg gehen wollen. Großbritannien verliert seine europäische Identität genauso wenig, wie dem übrigen Europa der britische Beitrag zu seinem Wesen abhandenkommt. Der „Single Market“ und die Zollunion können so mächtig gar nicht sein, dass sie Jahrhunderte gemeinsamer (Ideen-)Geschichte und gegenseitiger kultureller Durchdringung, die Großbritannien und den Rest Europas für immer aneinander geschmiedet haben, überwögen.

Interessanterweise nämlich brach sich auch mit dem Brexit-Votum etwas Bahn, das nicht auf die britischen Inseln beschränkt ist, sondern in den meisten europäischen Ländern in mehr oder weniger starker Ausprägung anzutreffen ist. Großbritannien ist auch in dieser Frage keinesfalls entkoppelt vom Kontinent.

Die Sorgen der „Somewheres“,
die Eitelkeit der „Anywheres“

Für David Goodhart geht es hier um den Konflikt zwischen „Somewheres“, also solchen, die an gewisse Orte dauerhaft gebunden sind oder gebunden sein wollen, und „Anywheres“, elitären Kosmopoliten, die sich notfalls überall eine transkulturelle Heimat einrichten können (inklusive eigener Methoden der Abgrenzung wie Habitus oder – etwas konkreter – Gentrifizierung). Überall dort, wo der sogenannte Populismus Erfolge erzielt, haben die „Somewheres“ sich und ihren Interessen Geltung verschafft, lautet eine der Thesen, die man in Goodharts 2017 erschienenem Buch zum Brexit lesen kann.

Dass sich gerade in Großbritannien und den USA mit dem Brexit bzw. der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten die politischen Ansichten der „Somewheres“ durchsetzen konnten, erklärt er mit dem in beiden Ländern herrschenden Zweiparteien-System: In Kontinentaleuropa absorbiert der Parteienpluralismus divergierende Meinungen zu einem guten Teil, die bipartisan geprägten Länder ermöglichen deutlicher zugespitzte Wahlentscheidungen.

In Großbritannien und den USA finde man nichtsdestoweniger eine innerparteiliche Spaltung. So gebe es bei den Tories solche, die einen „harten“ Brexit befürworten, und solche, die eher einen Austritt à la Theresa May wollten, während manche Parlamentarier der Labour Party nicht müde werden, zu sagen, dass sie das Mehrheitsvotum für den Brexit in den von ihnen repräsentierten Gegenden im Norden und in den Midlands respektieren werden. Doch aus narzisstischen Gründen hätten diese „Linken“ nicht einmal für den May-Deal stimmen wollen. (Im Übrigen glaubt Goodhart, dass Johnsons Vorschlag besser ist, der auch den Schwierigkeiten in Nordirland gerecht werden kann.)

Die „Anywheres“ sind in seinen Augen die Verlierer im Brexit-Referendum, und zwar schlechte Verlierer, wie er im „Figaro“ erklärte. Sie seien es schlicht nicht gewohnt, dass „ihre Autorität und ihre ‚politischen Visionen‘ infrage gestellt werden“. Goodhart erkennt eben darin eine große Portion von dem Narzissmus, der auch zu der aktuellen Krise beigetragen habe.

Ein Durcheinander, mag sein, aber ein demokratisches

Goodhart findet es „hysterisch“ wegen des Brexits von einer demokratischen Krise zu sprechen. Im Gegenteil spricht er hier von einer funktionierenden Demokratie. Im Gespräch mit „Le Figaro“ führt er aus: „Das Vereinigte Königreich erlebt eine verrückte Krise, aber wir hatten zuvor eine politische Krise! Nämlich eine Krise der Nichtrepräsentation zahlreicher Meinungen.“

Goodhart meint, dass entgegen der auch von hiesigen Medien verbreiteten Ansicht eine Mehrheit der Briten dafür ist, den Brexit durchzuziehen – nicht unbedingt, weil sie so abgestimmt haben, sondern weil sie die demokratische Entscheidung von 2016 respektiert sehen wollen. „Man muss wissen, dass ein Teil der Leute, die für einen Verbleib in der EU gestimmt haben, glauben, dass man sie nun verlassen sollte, um dem Willen des Volkes gerecht zu werden. Wie in meinem Fall. Das heißt, dass 65 Prozent der britischen Bevölkerung immer noch gehen wollen.“

Goodhart sagt: „Ja, wir sind in einem großen Durcheinander, aber demokratisch! Das ist alles nichts Neues, wir produzieren politische Dramen seit Shakespeare.“ Und was könnte britischer sein?

Amelie Winther

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 25. Oktober 2019

ZDF: WARUM NICHT MIT OFFENEN
KARTEN?

Kürzlich präsentierte das ZDF eine Bundestagsabgeordnete der „Grünen“ als gewöhnliche Kundin einer Bio-Lebensmittelkette, die Produkte einer Hirsemühle aus ihren Regalen verbannt hatte, weil der Betreiber der AfD nahesteht. Die „Kundin“ – in Wahrheit die „grüne“ Politikerin Monika Lazar – begrüßte den Boykott.

SYRIEN-KRIEG: WAS KANN PUTIN ZUM
FRIEDEN BEITRAGEN?

Der Schlüssel zur Beendigung der von der Türkei zu verantwortenden neuerlichen Eskalation könnte in Moskau liegen. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat betont, dass sein Land bereit sei, einen „Dialog zwischen den Kurden und Damaskus“ zu fördern. Wie die Putin-Regierung jetzt vorgehen will.

BERECHTIGTE PANIK?

Immer wieder wird als Argument dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland Einwanderung großen Stils benötige, die Wirtschaft ins Spiel gebracht, die unter dem demografischen Wandel so sehr leide, dass sie auf Fachkräfte aus der Fremde dringend angewiesen sei. Was stimmt?

ÖSTERREICH: ALLE OPTIONEN OFFEN

Die Alpenrepublik nach der Wahl: Nach ersten Sondierungsgesprächen zwischen ÖVP-Chef Sebastian Kurz und SPÖ-Obfrau Pamela Rendi-Wagner zeigten sich beide Seiten vorsichtig optimistisch. Kommt also eine Neuauflage der Großen Koalition? Entschieden ist nichts.

OPTIMISTISCH, ABER NICHT OHNE
SORGEN

Gemäß aktueller Shell-Jugendstudie beklagen 68 Prozent der 12- bis 25-Jährigen in der Bundesrepublik Deutschland, dass man nicht offen über bestimmte Themenfelder diskutieren könne. Außerdem verschweige die Regierung der Bevölkerung die Wahrheit, findet eine Mehrheit der jungen Leute.

PROBLEMATISCHES VERGNÜGEN

Urlaub auf dem Meer ist so stark gefragt wie selten zuvor, die Kreuzfahrtbranche wächst und wächst. Doch der anhaltende Boom hat eine ausgeprägte Schattenseite, denn kaum ein anderes Fortbewegungsmittel stößt so viele Schadstoffe aus wie die riesigen Pötte der Tourismusindustrie, die schwimmenden Städten gleichen.

REISEN IM SCHLAF

Spätestens seit Klima- und Umweltschutz Tag für Tag an Präsenz und Aufmerksamkeit gewinnen, rückt die Reise auf Schienen wieder in den Fokus der breiten Öffentlichkeit. Während die Österreichischen Bundesbahnen die Potenziale des Nachtzugs erkannt haben, scheint die Deutsche Bahn sich an dessen Renaissance nicht beteiligen zu wollen.

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