Nr. 8 vom 15.2.2019

Nr. 08 vom 15.2.2019

Standpunkt

Warum ist die Grenze noch immer für
jeden offen?

Glaubt man Thomas de Maizières neuem Buch „Regieren – Innenansichten der Politik“, wird Deutschland „nicht schlecht“ regiert.“ Zu gutem Regieren würde es allerdings gehören, dass man, erstens, absehbaren Herausforderungen proaktiv begegnet. Dass man, zweitens, wenn das nicht passiert ist, wenigstens noch wirksam reagiert. Und dass man, drittens, zumindest aus dem eigenen Scheitern Lehren zieht. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um Herausforderungen handelt, die für das Volk, dessen Nutzen zu mehren und von dem Schaden abzuwenden man geschworen hat, essentiell sind.

Eine politische Entscheidung

Auf Seite 75 schreibt de Maizière, bis März 2018 amtierender Bundesinnenminister: „Ich hatte am 13. September 2015 die Entscheidung zu treffen, in welcher Form die Grenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze durchgeführt werden sollten.“ Weiter heißt es bei ihm: „Es wurden von Tag zu Tag mehr Flüchtlinge. Sie waren schon längst vor der humanitären Einzelentscheidung der Bundeskanzlerin vom 4. September 2015 [gemeint ist die Aufnahme von 20.000 Asylmigranten, die sich in Ungarn befanden] aufgebrochen und seit Wochen unterwegs.“

In dieser Lage habe man sich in der Regierung „auf die Einführung von Grenzkontrollen, beginnend am Sonntag, 13. September“ verständigt. Es sei bei dieser Entscheidung aber offen geblieben, „was mit dem Begriff ‚Grenzkontrollen‘ genau gemeint war“ – also, ob die über sichere Drittstaaten anreisenden Asylbegehrenden an der Grenze zurückgewiesen werden sollten. Die Führung der Bundespolizei habe zurückweisen wollen; dies wäre nach de Maizières Rechtsauffassung auch rechtlich möglich gewesen. Doch er habe „vor allem politisch entschieden“. Und da sei es ihm nicht sicher erschienen, dass Österreich und die anderen Staaten auf der Balkanroute einem bundesdeutschen Beispiel folgen würden, wovon die Führung der Bundespolizei ausging. Außerdem wäre eine konsequente Zurückweisung nur möglich gewesen unter Inkaufnahme von „hässlichen Bildern“, wie Polizisten Migranten am Übertreten der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland hindern.

Damit taucht wieder eine gängige Unterstellung auf, die, wenn sie denn zuträfe, von vornherein pauschale Zweifel an der Rechtsstreue von Asylmigranten wecken müsste. „Kein Flüchtling hätte eine einfache Zurückweisung akzeptiert“, lautet diese Merkel’sche Behauptung in der Variante des de Maizière’schen Buches.

Ist es stets zu früh oder zu spät?

Also war de Maizière am 13. September 2015 „überzeugt davon, dass wir nach wenigen Tagen angesichts dieser Bilder aufgegeben hätten und die Grenzkontrollen so durchgeführt hätten, wie wir sie von Beginn an durchgeführt haben. Das allerdings wäre dann eine große Niederlage des Rechtsstaates und des polizeilichen Handelns gewesen. Ein Sogeffekt auf weitere Flüchtlinge wäre dann erst recht eingetreten nach dem Motto: Die Deutschen halten ihre harte Haltung ja sowieso nicht durch.“

Damit lenkt de Maizière unfreiwillig das Problem auf die richtige Fragestellung, zumal er die Signalwirkung des Geschehens an der deutschen Grenze ja im Auge gehabt zu haben erklärt: Warum wurden echte Grenzkontrollen, also solche mit Zurückweisung von über sichere Drittstaaten anreisenden Asylmigranten, nicht schon viel früher, als die Maßnahme ohne Weiteres durchsetzbar gewesen wäre, eingerichtet? (Etwa im Zuge der Kontrollen anlässlich des G7-Gipfels in Elmau, bei denen vom 26. Mai bis zum 15. Juni 2015 bereits 10.555 Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz – im Wesentlichen illegale Einreisen – festgestellt wurden.) Und warum wurden sie nicht wenigstens später etabliert?

Letzteres erörtert de Maizière ganz ausdrücklich: „Ob man später bei geringeren Zahlen, nach dem Schließen der Balkanroute und nach dem Inkrafttreten des Türkeiabkommens Zurückweisungen hätte durchführen sollen, haben wir immer wieder diskutiert, auch im Kreis der Innenpolitiker, auch auf einem Bundesparteitag der CDU.“ Bis in den Sommer 2018 sei diese Frage der Zurückweisungen zwischen CDU und CSU immer wieder von großer Bedeutung gewesen, „was die Schwesterparteien fast auseinandergebracht hätte“.

Den gleichen Fehler wieder

De Maizière, der davon spricht, in seinem Entscheidungsprozess „die Bundeskanzlerin und den Koalitionspartner, in diesem Fall den Vizekanzler Sigmar Gabriel“ mehrfach konsultiert zu haben, weiß also, dass er unter Merkel gar nicht den Spielraum hatte, der Empfehlung von Bundespolizeipräsident Dieter Romann zu folgen – ebenso wenig wie dies seinem Nachfolger Seehofer möglich war und ist. Warum er diese folgenschwerste aller Entscheidungen – die der Nichtzurückweisung mit der Signalwirkung in die Herkunftsstaaten, die stärker nicht hätte ausfallen können – laut der Kapitelüberschrift unter „einsame Entscheidungen“ rechnet, bleibt also de Maizières Geheimnis.

Kein Geringerer als sein Amtsvorgänger, der Sozialdemokrat und frühere „Grünen“-Politiker Otto Schily, hat im Juni 2018 während der Auseinandersetzung zwischen Seehofer und Merkel um Zurückweisungen erklärt, es sei auch aus der Sicht des Jahres 2015 ein „schwerwiegender Fehler“ gewesen, Hunderttausende von Migranten – Schilys Erachtens „unter Verstoß gegen geltende gesetzliche Vorschriften“ – einreisen zu lassen.

Unter der Regierung Merkel gibt es offensichtlich weder in der heraufziehenden Krise noch auf einem ihrer Höhepunkte noch bei einem vorübergehenden Rückgang (trotzdem reisen auch derzeit pro Tag durchschnittlich 500 Migranten über sichere Drittstaaten illegal in die Bundesrepublik ein) einen Spielraum, an der deutschen Bundesgrenze Personen, die keine zum Grenzübertritt berechtigten Papiere besitzen, aber „Interesse an Schutz oder Asyl in der Bundesrepublik“ zum Ausdruck bringen, die Einreise zu verweigern. Damit ist auch klar, dass das Ereignis von 2015 sich jederzeit wiederholen kann.

Die halbe Ankündigung von AKK

Wenn die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer nach dem „Werkstattgespräch“ ihrer Partei erklärte, für den Notfall („als Ultima Ratio“) auch die Zurückweisung von Asylmigranten nicht auszuschließen, liegt also auf der Hand, dass diese von vornherein halbe Ankündigung im entscheidenden Moment wieder als angeblich nicht durchführbar abgetan werden wird. In der CDU Merkel’scher Prägung ist es trotz aller Versuche von AKK, sich den Anschein zu geben, man habe verstanden, für effektive Grenzkontrollen stets zu früh oder zu spät. Dass sie Realität würden, ist bei dieser Regierung nicht zu erwarten.

Ulrich Wenck

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 15. Februar 2019

RINGEN UM NORD STREAM 2

Mit hanebüchenen „Argumenten“ möchten interessierte Kreise den Deutschen vermitteln, dass die zweite Erdgasleitung von Russland durch die Ostsee bis nach Lubmin bei Greifswald uns in eine Abhängigkeit stürzen und die Versorgungssicherheit gefährden würde. Jetzt gilt es, Souveränität zu beweisen.

WO DIE KRIMINALSTATISTIK HINKT

Häufen sich in der Bundesrepublik Deutschland Messerattacken? Belastbare Statistiken dazu gibt es nicht, doch das soll sich ändern. Allerdings erklärt Oliver Malchow, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei: „Wir haben gehört, dass es noch bis 2022 dauern soll, aber das halten wir für zu spät.“

STAATSSTREICH IN VENEZUELA?

Ein Offener Brief von Noam Chomsky und über 70 weiteren Intellektuellen fordert: Die US-Regierung soll die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Venezuelas einstellen. Zu den Unterzeichnern gehört auch der Völkerrechtler Alfred de Zayas, der im Auftrag der UN den Karibikstaat bereist hat und schwere Vorwürfe gegen Washington und Verbündete erhebt.

TUSK HEIZT BREXIT-DEBATTE AUF

EU-Ratspräsident Donald Tusk erhitzte die Gemüter auf der Insel mit einer Entgleisung. Er hatte die Befürworter des Brexits nicht nur der Planlosigkeit bezichtigt, sondern auch spekuliert, welchen „Platz in der Hölle“ sie einnehmen werden. Wie Brüsseler Biestigkeiten Europa belasten.

PARITÄT MIT DER BRECHSTANGE

Der Landtag von Brandenburg hat mit den Stimmen von SPD, Linken und „Grünen“ ein möglicherweise verfassungswidriges Gesetz verabschiedet. Kritiker des Parité-Gesetzes sehen Wahlrechtsgrundsätze und die Organisationsfreiheit von Parteien verletzt.

JUSOS MIT ANTIDEUTSCHER HALTUNG

In Hannover bewegen sich Jungsozialisten, also Mitglieder der Jugendorganisation der SPD, auf Abwegen. Die neueste Kampagne lautet: „Mein Vaterland interessiert mich nicht die Bohne“. Statt sich des politischen Erbes von Friedrich Ebert und Kurt Schumacher würdig zu erweisen, haben sich missratene Urenkel von deren Tradition endgültig verabschiedet.

ÖPNV VOR DEM KOLLAPS?

Wenn die Deutschen der Forderung entsprechen, vermehrt auf den öffentlichen Personennahverkehr zu setzen, könnten öffentliche Verkehrsnetze schnell zusammenbrechen. Was getan werden müsste.

WESEN UND MACHT DER
MUTTERSPRACHE

Zum 20. Mal wird in diesem Jahr am 21. Februar der „Internationale Tag der Muttersprache“ begangen. 1999 von der UNESCO beschlossen und 2000 zum ersten Mal gefeiert, soll er der Förderung und dem Schutz aller Sprachen dienen. Das ist nach wie vor dringend nötig.

Nach oben