Nr. 6 vom 2.2.2018

Nr. 6 vom 2.2.2018

Standpunkt

Nicht nur „Lokalnachrichten“

Die Tageszeitung „Le Figaro“ vom Wochenende des 3./4. Februar 2018 widmete ihr Titelbild und die Seiten 2 und 3 der „öffentlichen Ohnmacht“ gegenüber den Gewaltausbrüchen in Calais. Vorausgegangen war eine Auseinandersetzung zwischen Afghanen und Eritreern am 1. Februar mit 22 Verletzten, von denen fünf durch Schusswaffen verwundet wurden. Vier befanden sich anschließend in Lebensgefahr. Und das Magazin „l’express“ der ersten Februarwoche berichtete von dem Hilferuf („SOS“) der Lehrer am „Lycée Joseph Gallieni“, die den Vorwurf erheben, dass der Staat sie alleinlasse.

Was haben diese beiden Sachverhalte miteinander zu tun? Nicht nur für den „Figaro“-Kommentator Alexandre Devecchio gehören sie und viele weitere zusammen: „In Calais stehen sich Migranten mit Knüppel und Feuerwaffe gegenüber. Im Toulouser Gallieni-Gymnasium prangern Lehrkräfte ‚einen Kriegszustand‘ an, eine ständige unglaubliche Gewalt, die Schüler und Personal gefährdet. […] In Garges-lès-Gonesse im Oise-Tal hat ein 76-jähriger Rentner, Youcef, an junge Leute aus der Stadt appelliert, sein von sechzehn Roma besetztes Haus zu räumen. Die Polizei hatte nicht das Recht einzugreifen. […] In Sarcelles wurde ein achtjähriger Junge, der eine Kippa trug, auf der Straße von zwei Heranwachsenden aus dem Gleichgewicht gebracht und auf dem Boden liegend geschlagen. […] Gestern protestierten die Gefängnisaufseher, nachdem mehrere von ihnen von einem islamistischen Häftling angegriffen worden waren. […] Erinnern wir uns schließlich auch der an Silvester in Champigny gelynchten Polizisten.“ Isoliert genommen, könnten die Gewalttaten als „Lokalnachrichten“ angesehen werden, schreibt Devecchio. In der Zusammenschau handele es sich aber um die Anzeichen der „malaise français“, des französischen Unbehagens. Wenig gibt der Kommentator auf die Hoffnungen, die sich mit der Wahl von Emmanuel Macron verbanden, wenn er es nicht schaffe, „die Autorität des Staates“ wiederherzustellen.

Aktuell halten sich 500 bis 800 Afghanen, Eritreer und Sudanesen, von denen die meisten nach England wollen, in Calais auf (der „Dschungel“ mit mehr als 8.000 Migranten wurde im Oktober 2016 geräumt). Wie „Le Figaro“ berichtet, gruppiert man sich weiterhin nach Nationalitäten, ohne sich zu vermischen – von der Essensausgabe an mehreren Orten der Stadt einmal abgesehen. Bei einer dieser Verteilungen kam es denn auch zu dem blutigen Kampf, der nach den Worten von Innenminister Gérard Collomb „einen noch nicht dagewesenen Grad der Gewalt“ erreicht habe. Als Hintergrund gilt eine Auseinandersetzung zwischen Schleusern. „Le Figaro“ zitiert eine Quelle aus der Justiz: „Das sieht nach einer Abrechnung aus. Die Gegend, wo sich die Schießerei ereignet hat, wird eher von afghanischen ‚Connections‘ kontrolliert. Möglicherweise haben die zahlenmäßig im Raum Calais überwiegenden Eritreer versucht, kraft ihrer Überzahl Parkplätze zu übernehmen, die von afghanischen Schleppern beherrscht werden.“ Geschossen haben soll dann ein 37-jähriger Afghane.

In dem weiteren Beitrag „La guerre des bandes pour le contrôle des parkings“ stellt die Zeitung dann noch die Frage, ob „der erbitterte Krieg um Territorien, den sich rivalisierende Banden wegen der Anteile am ‚Markt‘ der Migranten liefern“, genauso blutig werden wird „wie die Abrechnungen in den Siedlungen (cités) von Marseille vor dem Hintergrund des Drogenhandels“. Womit eine weitere Baustelle benannt ist, die Frankreich aufgrund der weit fortgeschrittenen Veränderung seiner Gesellschaftsstruktur nicht in den Griff kriegt.

Kommen einem die Ingredienzen dieser beunruhigenden Lage nicht auch hierzulande zunehmend bekannt vor – von den „Lokalnachrichten“ bzw. „Einzelfällen“ über die Vielzahl der möglichen Konfliktlinien bis zum Hilferuf der Lehrer?

Ach ja, das Gymnasium in Toulouse. Die Lehrkräfte berichten in „l’express“ von Beschimpfungen, Morddrohungen, Brandstiftungen, Zerstörungen. Gegen 60 bis 80 Schüler laufen gerichtliche Maßnahmen, manche besitzen Waffen – und 95 Prozent der Befragten, ob Schüler oder Personal, erklären, Opfer von Gewalt geworden zu sein. Womit hinreichend deutlich wird, dass mit einer Weiterentwicklung Europas in diese Richtung praktisch niemandem gedient ist und am Ende fast alle darunter leiden.

Ulrich Wenck

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 2. Februar 2018

LEHREN AUS COTTBUS?

Die Stimmung in Cottbus, dem Wissenschafts- und Verwaltungszentrum in der Niederlausitz, ist gekippt. Immer mehr Bürger protestieren nun gegen die voranschreitende Entfriedung.

VOLKSENTSCHEIDE JETZT!

Das Grundgesetz der Bundesrepublik ist für Plebiszite offen. Allein die CDU hat sich in den vergangenen Jahren dagegen gesperrt. Doch das Ringen um eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie um Volksentscheide auf Bundesebene geht weiter.

BÜRGER ZWEITER KLASSE?

Zwei von drei Sachsen sind der Auffassung, dass die Menschen in den neuen Bundesländern auch 30 Jahre nach der Wende benachteiligt werden. Das ergab jetzt die repräsentative Umfrage eines Leipziger Meinungsforschungsinstituts. Für diese Wahrnehmung gibt es Gründe.

DER OXFAM-STANDPUNKT

Das Auseinanderklaffen der sozialen Schere ist ein Dauerthema. Anlässlich des Weltwirtschaftsforums in Davos war es besonders präsent. Eine maßgebliche Stimme in dieser Debatte ist die internationale Hilfs- und Entwicklungsorganisation Oxfam.

KRIEG GEGEN KURDISTAN

Mit dem Einmarsch der türkischen Armee im nordsyrischen Distrikt Afrin ist der Stellvertreterkrieg in eine neue Phase getreten. Erdoğan riskiert eine Konfrontation mit dem NATO-Partner USA. Lässt der türkische Präsident den Nahen Osten in Flammen aufgehen?

AUF DER JAGD NACH PUNKTEN

Manche Sportfunktionäre geben sich als Kämpfer gegen die AfD, um sich zu profilieren. Beispiele aus Frankfurt und Hamburg zeigen, dass die Rechnung nicht immer aufgeht.

MIT EINEM RENNEN ZUR LEGENDE

Thomas Dreßen gewann am 20. Januar 2018 als erster Skirennfahrer des Deutschen Skiverbandes seit 39 Jahren die legendäre „Streif“, also die berühmte Hahnenkammabfahrt in Kitzbühel, Tirol. Wie stehen seine Chancen bei den Olympischen Winterspielen?

DIE HAUPTMANNS

Gerhart Hauptmann (1862–1946) und seine Frau Margarete (1878–1957) erlebten den Untergang Dresdens im Februar 1945. Der greise Literaturnobelpreisträger, gebrochen von Schmerz und Trauer, hatte danach nur einen Wunsch: Er wollte nach Hause, nach Schlesien – in seine Villa „Wiesenstein“. So heißt auch die neue Romanbiografie, die nicht nur Hauptmanns letzte Lebensmonate beleuchtet, sondern auch die bewegte Vita und das vielschichtige Werk des Dichters reflektiert.

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