Nr. 52/02 vom 21.12.2018
Standpunkt
Wenn der Schnee staubt
Man könnte sich – nicht ohne eine gewisse Berechtigung – auf den Standpunkt stellen, dass der Maler Paul Rieth (1871–1925) dem Motiv der Skifahrerin ein für alle Mal gültigen Ausdruck verliehen hat. Es erschien auf der Titelseite der ersten Ausgabe des Jahres 1911 der bekanntlich stilbildenden Zeitschrift „Jugend“ und schmeichelt dem Auge auch noch heute – siehe das Titelbild der aktuellen National-Zeitung.
Allerdings funktioniert so die Welt nicht; sie verlangt nach immer neuen Ausdrucksformen und Interpretationen, mögen sie auch hinter vorangegangenen zurückbleiben. Darum sieht heute eine Skifahrerin in den Augen eines Malers anders aus als einst. Schließlich steigt sie auch nicht mehr den Berg hinauf, wie das 1911 und noch Jahrzehnte später die Voraussetzung für den Skigenuss war. Der Schnee ist ebenfalls nicht mehr derselbe, sondern gehört einer aussterbenden Art an, selbst wenn mancher meint, ihn ohne Rücksicht auf die Natur mit Schneekanonen ersetzen zu können.
Und so hat der Künstler Christian Ludwig Attersee, Jahrgang 1940, für den Österreichischen Skiverband (ÖSV) ein Plakat gestaltet, das mit unserem Titelbild nur wenig gemein hat. Aber es ist kein Werk ohne Tradition, vielmehr kann man es unschwer in eine Entwicklungsreihe mit Egon Schiele und Ernst Ludwig Kirchner stellen. Deren Bilder sind auch heute noch Publikumsmagneten und – bislang – kommt keine ernstzunehmende Stimme darauf, sie des „Sexismus“ zu zeihen. Maßlos übertrieben erscheint daher die Aufregung, die das ÖSV-Plakat von Attersee Mitte Dezember hervorgerufen hat, nachdem die Landeshauptfrau von Niederösterreich, die frühere Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP), es präsentiert hatte. Inzwischen wurde es zurückgezogen.
Die Empörung erscheint umso deplatzierter, als das abstrakte Bild von Attersee fraglos den Anspruch erheben kann, Kunst (kommt von „können“) zu sein, während man dies von hochsexualisierten Fernsehprogrammen wie „Deluxe Music“, die heute in jeder dritten Eisdiele laufen, nicht behaupten mag. Erst recht wirkt der „Skandal“ konstruiert, solange niemand etwas dagegen tut, dass schon Kinder im Internet mit härtester Pornografie konfrontiert werden, wobei niemand sagen kann, was das für ihr weiteres Leben bedeutet.
Würden sich alle Ärgernisse auf einem Niveau wie dem des Attersee-Plakats bewegen, wäre die Welt tatsächlich ein besserer Ort. Tröstlich auch, dass zu jeder Epoche die Zensoren den Satz von Ludwig Hevesi, der am Gebäude der Wiener Secession prangt, entweder gar nicht oder nur zur Hälfte zur Kenntnis genommen haben: „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit.“ Mögen sich 2019 mehr Debatten nur um „Probleme“ wie dieses drehen! Sie haben wenigstens einen gewissen Unterhaltungswert, sind harmlos – und den Künstler wird seine in diesem Umfang unverhoffte Wiederprominenz gewiss besonders freuen.
I. Cavillo
Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 21. Dezember 2018
ANGRIFF AUF NORD STREAM 2
Die „Nord Stream 2“-Erdgasleitung – gut 300 Kilometer sind schon verlegt – soll von Russland aus durch die Ostsee in die Nähe von Greifswald führen und Ende 2019 fertiggestellt sein. Washington orchestriert nun Widerstände, die das Projekt zu Fall bringen sollen. Dabei ist kein „Argument“ zu unlogisch. Die Hintergründe schildert Dr. Bernhard Tomaschitz.
KONSEQUENT BRITISCH
Welche Rolle spielten Geschichte und Mentalität der Briten bei der Entscheidung, der EU den Rücken zu kehren? Der London-Korrespondent Jochen Buchsteiner geht dieser Frage in einem Buch nach und erklärt die „Flucht der Briten“.
STRASSBURG: WICHTIGE FRAGEN
BLEIBEN
Sicherheit bleibt in Staaten mit hoher Zuwanderung auf Generationen ein knappes Gut. Das unterstreicht das Attentat eines islamistischen Täters, der in der Nähe des Straßburger Weihnachtsmarktes fünf Menschen erschoss und elf weitere verletzte. Mit dem Tod des Terroristen ist der Fall nicht erledigt.
IN DER „FALSCHEN“ PARTEI?
Der AfD wird weiterhin der ihr eigentlich zustehende Sitz im Bundestagspräsidium vorenthalten, obwohl der Bewerberin Mariana Harder-Kühnel, Rechtsanwältin und Mutter dreier Kinder, nichts vorzuwerfen ist. Die fraktionsübergreifende Ablehnung schadet der Glaubwürdigkeit der anderen Parteien.
RISIKEN DES MOBILEN ALLESKÖNNERS
Handys unterm Weihnachtsbaum bringen gerade junge Augen zum Leuchten, denn der digitale Alleskönner ist auch ein Statussymbol. Doch Risiken und Nebenwirkungen vor allem für diese Nutzer sind nicht zu unterschätzen, warnt der Psychiater Manfred Spitzer. „Die Smartphone-Epidemie. Gefahren für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft“.
AUF EINEM SEEMANNSGRAB,
DA BLÜHEN KEINE ROSEN
Vor 75 Jahren, Weihnachten 1943, ging die „Scharnhorst“ vor dem Nordkap in ihrer letzten Schlacht gegen überlegene britische Kräfte unter. Von 1.968 Besatzungsmitgliedern überlebten nur 36. Ein einstiger Gegner erinnert sich: „Ich trauere jeden Tag meines Lebens um diese Männer.“
„EIN KINDLEIN IN DEN ARMEN …“
Raffaels 1513/14 entstandene „Madonna della Sedia“ ist weltberühmt. In Deutschland waren es die Frühromantiker, die mit ihrem feinen Gespür für das Wahre und Schöne den Florentiner Maler besonders verehrten und nicht zuletzt durch seine Marienbilder zu eigenen Kunstwerken inspiriert wurden.