Nr. 3 vom 11.1.2019

Nr. 03 vom 11.1.2019

Standpunkt

Die unterschätzte Gefahr
für die Demokratie

Was macht ein Journalist, der von manchem etwas, aber von wenig etwas Fundiertes weiß, wenn er ein paar besinnliche Wünsche für das noch neue Jahr aufschreiben will? Er greift eine Zeitparole auf, variiert sie vielleicht ein wenig. Im Januar 2019 ist es da opportun, sich um die „liberale Demokratie“ Sorgen zu machen oder um die „offene, demokratische Gesellschaft“. Beide Begriffe werden aber nicht näher ergründet, sondern von vornherein als Kampfansagen gegen die AfD und Warnungen vor „Rechtspopulismus“ verwendet.

Lies nach bei Böckenförde

Wenn es in einer Demokratie zur Neuverteilung von Macht und Einfluss kommt, ist dies keine Bedrohung, sondern Teil ihrer Funktion und Ausdruck dessen, dass sie funktioniert. Vor lauter Oberflächlichkeit gerät jedoch aus dem Blick, dass es „Voraussetzungen der Demokratie als Staats- und Regierungsform“ gibt, „von deren Vorhandensein ihre Lebens- und Funktionsfähigkeit als Organisationsprinzip der Herrschaftsausübung abhängt“. Zitiert ist damit Ernst-Wolfgang Böckenförde, der diesen Voraussetzungen als Professor für Öffentliches Recht, Verfassungs- und Rechtsgeschichte sowie Rechtsphilosophie an der Universität Freiburg und von 1983 bis 1996 als Richter des Bundesverfassungsgerichts nachgegangen ist. Er, christlich geprägter Sozialdemokrat und Intellektueller von hohen Graden, als Jurist Schüler von Hans Julius Wolff, als Historiker Schüler von Franz Schnabel, dem Großmeister für das 19. Jahrhundert, hat diese Voraussetzungen wiederholt dargelegt. So im „Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland“ (Band 1, 1987, S. 887 bis 950) und in dem Suhrkamp-Taschenbuch „Staat, Verfassung, Demokratie“, in dem 1991 (auf den Seiten 289 bis 378) sein Text „Demokratie als Verfassungsprinzip“ aus dem Handbuch des Staatsrechts nochmals in durchgesehener und ergänzter Fassung erschienen ist.

Gesellschaftliche Voraussetzungen

Böckenfördes Erkenntnisse fanden dann auch Eingang in das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993, in dem die von ihm postulierte „relative Homogenität“ eine zentrale Rolle spielt. Zur Wahrung des demokratischen Prinzips wird es in dem Urteil für unabdingbar gehalten, dass „sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozess politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es – relativ homogen – geistig, sozial und politisch verbindet, rechtlichen Ausdruck zu geben“.

Die gedanklichen Grundlagen dieser wichtigen Feststellung finden sich im besagten Beitrag „Demokratie als Verfassungsprinzip“ von Ernst-Wolfgang Böckenförde, der an dem Maastricht-Urteil als Richter des Zweiten Senats mitwirkte. Böckenförde führte in diesem schon klassischen staatsrechtlichen Text aus: „Wesentliche gesellschaftliche Voraussetzungen der Demokratie sind das Vorhandensein einer gewissen Emanzipationsstruktur der Gesellschaft, die Abwesenheit theokratischer Religionsformen mit universalem Lenkungsanspruch sowie das Bestehen einer relativen Homogenität innerhalb der Gesellschaft.“

Der erste Punkt – Emanzipationsstruktur – erfordert, dass der Einzelne nicht durch Stammes-, Sippen- oder Kastenstrukturen daran gehindert ist, politisch frei zu entscheiden und zu handeln.

Der zweite Punkt – Abwesenheit theokratischer Religionsformen – ist unter den heutigen Gegebenheiten schon relevanter: „In ähnlicher Weise fehlt es an den Voraussetzungen für die Realisierung demokratischer Freiheit und politischer Gleichheit, wenn in der Gesellschaft eine theokratische Religionsform bestimmend ist, die einen universalen Lenkungsanspruch auch im Hinblick auf das Verhalten im politischen Bereich erhebt.“ Denn fundamentalistische Religionen, sofern sie für die Gesellschaft bestimmend seien, entzögen „der demokratischen politischen Willensbildung weithin den Boden“. Das, merkte Böckenförde an, „ist heute vor allem für die vom Islam geprägten Gesellschaften von Bedeutung“.

Nun aber zur dritten, in der Einwanderungsgesellschaft à la Merkel im Eiltempo dahinschmelzenden Voraussetzung der Demokratie, die Böckenförde unter der Überschrift „Relative Homogenität innerhalb der Gesellschaft“ abhandelte. Demokratische Formen der Willensbildung vermögen laut Böckenförde nur dann „die erforderliche Integration und den Friedenszustand des politischen Gemeinwesens zu bewirken und zu erhalten, wenn ihnen eine zwar nicht absolute – sie würde die Freiheit aufheben –, aber doch relative Homogenität zugrunde liegt“. Relative Homogenität zeige sich „als ein sozial-psychologischer Zustand, in welchem die vorhandenen politischen, ökonomischen, sozialen, auch kulturellen Gegensätzlichkeiten und Interessen durch ein gemeinsames Wir-Bewusstsein, einen sich aktualisierenden Gemeinschaftswillen gebunden erscheinen“. Im Wesentlichen sei relative Homogenität „gleichbedeutend mit der vorrechtlichen Gleichartigkeit als der metarechtlichen Grundlage demokratischer Gleichheit“.

Eigenart, Geschichte, nationales Bekenntnis …

Böckenförde stellte dar, dass schon das Bestehen eines Staates als politische Einheit und Friedenseinheit eine gewisse relative Homogenität voraussetzt. Die staatliche politische Einheit könne „nicht aus und mit einem Übermaß von Dissoziationen und Antagonismen leben“. Das Maß an relativer Homogenität, das die Demokratie erfordere, gehe darüber jedoch noch hinaus.

Was aber ist die Grundlage der relativen Homogenität in diesem Sinne? Böckenförde schreibt: „Sie kann in ethnisch-kultureller Eigenart und Tradition, in gemeinsam durchlebter politischer Geschichte, in gemeinsamer Religion, gemeinsamem nationalen Bekenntnis u. ä. ihren Grund haben.“ Ein Stück weit sei sie vorgegeben; sie könne „aber auch, da sie sich wesentlich auch als Übereinstimmung im Bewusstsein darstellt, allmählich entstehen und wachsen“.

Wenn relative Homogenität die Voraussetzung der Demokratie ist, so ist unbestreitbar, dass Fortdauer oder Zerfall der Homogenität in einer Gesellschaft über den Bestand der Demokratie entscheiden. In den letzten gut drei Jahren sind viele Schritte erfolgt, das künftige „Wir-Bewusstsein“ innerhalb der Bundesrepublik zu untergraben, und gleichzeitig wurden Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich von der bisherigen Gemeinschaft abspaltende „Wir-Gefühle“ in zunehmend größeren Teilen der – veränderten – Bevölkerung bilden. Neue Grundlagen relativer Homogenität sind hingegen nicht in Sicht – Proklamationen eines „neuen Nationalkonzepts“ (Dirk Kurbjuweit in „Der Spiegel“ vom 22. August 2015) sind nicht wirkmächtig. Schon gar nicht interessieren sie die Kreise, die ein neues, gegenüber der bisherigen Gemeinschaft anders gerichtetes „Wir-Gefühl“ mitbringen oder hier entwickeln – und großenteils über kurz oder lang das hiesige Wahlrecht erlangen werden.

Ist das „historisch einzigartige Experiment“
verantwortbar?

Das Besondere an dem laufenden, am 20. Februar 2018 von dem Politikwissenschaftler Yascha Mounk in den Tagesthemen verkündeten „historisch einzigartigen Experiment“, „eine monoethnische, monokulturelle Demokratie in eine multiethnische zu verwandeln“ (wobei „es natürlich auch zu vielen Verwerfungen“ komme), ist also, dass dessen Ausgang lehrbuchmäßig bereits feststeht. Das Ergebnis ist nämlich, dass am Ende keine Demokratie im materiellen Sinne mehr stehen kann, selbst wenn ihre institutionellen Strukturmerkmale nicht angerührt werden.

Die Demokratie ist also viel verletzlicher und anders verletzlich, als es Mainstream-Medien und -Politiker wahrhaben wollen. Sie stellt, um es mit Ernst-Wolfgang Böckenförde zu sagen, „nicht eine apriorische Gegebenheit oder Möglichkeit im Zusammenleben der Menschen“ dar, sondern basiert auf unausgesprochenen Bauelementen, die man, insbesondere durch Erziehung und Bildung, pflegen und fördern, die man aber auch zerstören kann.

Vor diesem Hintergrund sollte klar sein, dass die eigentliche Gefahr, die der Demokratie droht, in dem radikalen Eingriff in die geschichtliche Entwicklung des deutschen Volkes in den Jahren seit 2015 liegt.

Offen und liberal?

Ist der Demokratie eine ihrer Voraussetzungen entzogen, braucht man sich über Attribute wie „liberal“ oder „offen“ keine Gedanken mehr zu machen. Beide Begriffe werden von denjenigen, die so stereotyp wie öffentlichkeitswirksam eine „Krise“ der „liberalen Demokratie“ bzw. der „offenen, demokratischen Gesellschaft“ durch sogenannte „Populisten“ beklagen, missbraucht oder unreflektiert gebraucht – und zwar im Sinne einer für Migration ohne Obergrenze offenen und in diesem Sinne „liberalen“ Demokratie.

Dabei ist die „offene Gesellschaft“ im Sinne Karl Poppers vor allem durch ihren Meinungspluralismus gekennzeichnet, der sich weder mit politischem Messianismus wie der Migrationsideologie verträgt noch damit, Andersdenkende zu verteufeln, auf dieser Grundlage die Diskussion mit ihnen zu verweigern und an die Stelle der Mittel geistiger Auseinandersetzung Boykott, Ausgrenzung und Rechtsbruch zu setzen.

Ulrich Wenck

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 11. Januar 2019

INS AUS GETWITTERT

„Grünen“-Chef Robert Habeck zog sich aus Twitter und Facebook zurück. Anlass war unter anderem die Kritik an einem Wahlkampfaufruf, in dem er Thüringen Rückständigkeit und Demokratieferne unterstellte. Doch auch jenseits der sozialen Netzwerke lassen sich die patriotismusallergischen Ansichten des Politikers mit den meisten Talkshow-Einladungen finden.

MEHR ALS EIN BETRIEBSUNFALL

Der „Spiegel“ ist Mittelpunkt des wohl größten deutschen Medienskandals seit Kujaus „Hitlertagebüchern“. Den vordem preisgekrönten Reporter Claas Relotius als „Einzeltäter“ darzustellen, verkennt die Strukturen, die die jahrelangen Lügen erst ermöglichten.

NACH DEM DATENKLAU

Am 4. Januar wurde öffentlich, was eigentlich längst schon hätte bekannt sein können: Jemand hatte sich Zugriff auf geschützte Daten von Politikern und Prominenten verschafft. Mittlerweile ist ein 20-jähriger Schüler ermittelt worden. Der Fall offenbart die Wichtigkeit einer IT-Sicherheitsdebatte, die Autonomie und Selbstverantwortung betont.

„UNCLE SAM“ WIRD NICHT GEHEN

US-Präsident Trumps Ankündigung eines US-Truppenabzugs aus Syrien hatte sowohl Hoffnungen als auch Befürchtungen geweckt. Doch Washington ruderte schnell zurück. Die USA werden in Syrien voraussichtlich noch lange militärisch präsent bleiben.

„BÜRGERREVOLUTION“ DER
GELBWESTEN

In Frankreich haben sich auch im neuen Jahr die Proteste der „Gilets Jaunes“ fortgesetzt. Am 5. Januar kam es abermals zu landesweiten Demonstrationen, die parteiübergreifend Unterstützung fanden. Emmanuel Macron und seine Regierungspartei verweilen im Umfragetief. Die Europawahl wird für Frankreichs Präsidenten zur Schicksalsfrage.

REGIERUNGSBILDUNG ODER
NEUWAHLEN?

Die Schweden haben im September 2018 ihr Parlament, den Riksdag, neu gewählt, aber immer noch keine neue Regierung. Denn das Wahlergebnis gefällt den etablierten Parteien nicht – weil die Schwedendemokraten drittstärkste Kraft wurden.

„WEITGEHEND FRIEDLICH“

In der Silvesternacht ist es auf deutschen Straßen und Plätzen deutlich hitziger und gefährlicher zugegangen, als von herkömmlichen Medien berichtet. So werden nach und nach teils blutige Attacken auf Polizisten und Rettungskräfte bekannt. Was sich in Frankfurt, Köln, Hamburg, Berlin und anderswo abspielte.

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