Nr. 50 vom 8.12.2017

Nr. 50 vom 8.12.2017

Standpunkt

Botschafter Rilke

„Die Briefe an einen jungen Dichter habe ich zum ersten Mal gelesen, als ich zwanzig war. Der Name des Autors – Rainer Maria Rilke – klang merkwürdig und schön. Meine Mutter meinte, sie hätte als junge Frau in diesem Buch ein wenig Trost gefunden, und vielleicht könnte es auch mir gefallen. Als ich an jenem Abend darin zu lesen begann, war es, als flüstere mir jemand in langen deutschen Sätzen all das ins Ohr, was ich, jung, wie ich war, schon immer hören wollte: ‚Einsamkeit wird dir Halt und Heimat sein … Traurigkeit ist das Leben, das dich in der Hand hält, um dich zu verwandeln.“ Das sind Sätze aus dem Vorwort zu der Neuerscheinung „Rilke und Rodin. Die Geschichte einer Freundschaft“ der 1984 geborenen amerikanischen Kunstjournalistin Rachel Corbett.

Trost der Welt und Lebensretter

Das berühmte Büchlein versammelt in der hübschen Insel-Ausgabe auf rund 50 Seiten zehn Briefe von Rilke an Franz Xaver Kappus, der sich Ende 1902 19-jährig mit dem Wunsch, Dichter zu werden, dem Verfasser von „Mir zur Feier“ anvertraut hatte. Rilke, keine sieben Jahre älter, beantwortete trotz ständig wechselnder Aufenthaltsorte, finanzieller und privater Nöte sowie kreativen Krisen mehr als fünf Jahre lang Kappus’ Hilferufe zuverlässig und mit einem berührenden Verständnis, das mit seiner Innigkeit noch ein Jahrhundert später auf die Amerikanerin Corbett tiefen Eindruck machte, weil es zu ihr selbst zu sprechen scheint.

Der norwegische Romancier Tomas Espedal, geboren 1961, schreibt in seiner im Mai erschienenen Sammlung „Biografie, Tagebücher, Briefe“ über Rilkes Wirkung: „Glaubst du, dass Bücher Leben retten können? Ich meine ja. Nicht irgendein Buch, nur die wenigsten natürlich. Doch manche Bücher können es, das meine ich, und jetzt lese ich Rilke. Ich lese Rilke in einer Art äußerster Not. Es ist, als schrien sie, diese Rilke-Bücher: Komm wieder auf die Beine, […]. Raff dich auf und komm zurück ins Leben, das schöne Leben, sagt Rilke.“

„Rainer Maria Rilke hat mir das Leben gerettet“, bekannte die belgische Schriftstellerin Amélie Nothomb, Jahrgang 1966, vor wenigen Wochen in einem Interview. Er sei prägend für ihren Werdegang: „Als ich mit 17 Jahren Rilkes ‚Briefe an einen jungen Dichter’ las, bekam ich eine völlig andere Vorstellung vom Schreiben. Denn Rilke stellt die einzige richtige Frage: Kannst du leben, ohne zu schreiben? Das konnte ich für mich klar beantworten.“

Rilke und der junge Dichter

Die „Briefe an einen jungen Dichter“, die der Komparatistik-Professor Hartmut Heep als „kulturellen Mythos“ einstuft, haben selbst in der US-Popkultur einen festen Platz. Hollywood-Ikone Marilyn Monroe las und verschenkte die „Letters to a Young Poet“, Schauspieler Dustin Hoffman nannte sie seine „Bibel“, und in der Komödie „Sister Act 2“ von 1993 korrespondiert das Büchlein in einer Szene mit dem amerikanischen Traum, der sich in Henry Thoreaus Bonmot ausdrückt: „Wenn wir das, was in uns liegt, nach außen in die Welt tragen, geschehen Wunder.“

Rilke rät Kappus nämlich, „in sich zu gehen und die Tiefen zu prüfen, in denen Ihr Leben entspringt; an seiner Quelle werden Sie die Antwort auf die Frage finden, ob Sie schaffen müssen. Nehmen Sie sie, wie sie klingt, an, ohne daran zu deuten. Vielleicht erweist es sich, dass Sie berufen sind, Künstler zu sein. Dann nehmen Sie das Los auf sich, und tragen Sie es, seine Last und seine Größe, ohne je nach dem Lohne zu fragen, der von außen kommen könnte. Denn der Schaffende muss eine Welt für sich sein und alles in sich finden und in der Natur, an die er sich angeschlossen hat.“

Dem Büchlein wäre aber kein vergleichbarer Erfolg zuteil geworden, lieferte es ausschließlich eine artistische Anleitung. Die Briefe bieten Lebenshilfe und Trost. Wo sich ohne inhaltlichen Verlust die persönliche Anrede durch ein „man“ ersetzen lässt, darf sich jeder als Adressat fühlen.

Das hat nicht zuletzt mit Rilkes Poetologie zu tun, die in der Sentenz „Gesang ist Dasein“ kulminiert, weshalb Rilke-Übersetzer Philippe Jaccottet richtig beobachtet, dass „das, was bei ihm eigentlich ein Modell fürs Dichten ist, immer ein Lebensmodell ist“. So sind Rilkes Briefe weit mehr als individuelle Korrespondenz und literarisch derart souverän, dass die französische „Bibliotheque de Pléiade“ sie unter seine Prosawerke reiht.

Rilke und Rodin

Bei unseren westlichen Nachbarn haben die „Briefe an einen jungen Dichter“ ohnehin eine außerordentliche Position inne, wie der Literaturwissenschaftler Jean-Michel Maulpoix weiß: „Dieser dünne Band ist in Frankreich fast so erfolgreich wie ‚Der kleine Prinz’ von Antoine de Saint-Exupéry oder ‚Der große Meaulnes’ von Alain-Fourier.“

Einsamkeit, Liebe und Geduld sind die großen Themen des Büchleins und das dankbare Seufzen der Leserschaft für seine Aphorismen übertönt alle Kritik wie jene Thomas Manns, der meinte, über Rilkes „adliges Getu’, seine frömmelnde Geziertheit“ spotten zu können.

Denn Rilke tut gut. Zum Beispiel dank solcher Sätze, die ihre Berechtigung allein dadurch haben, dass sie dem Ernst des Lebens gerecht werden. „Es ist aber klar, dass wir uns an das Schwere halten müssen; alles Lebendige hält sich daran, alles in der Natur wächst und wehrt sich nach seiner Art und ist ein Eigenes aus sich heraus, versucht es um jeden Preis zu sein und gegen allen Widerstand. Wir wissen wenig, aber dass wir uns zu Schwerem halten müssen, ist eine Sicherheit, die uns nicht verlassen wird; es ist gut, einsam zu sein, denn Einsamkeit ist schwer; dass etwas schwer ist, muss uns ein Grund mehr sein, es zu tun.“

Oder: „[…] ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.“

Oder: „Lieben ist […] ein erhabener Anlass für den einzelnen, zu reifen, in sich etwas zu werden, Welt zu werden, Welt zu werden für sich um eines anderen willen, es ist ein großer, unbescheidener Anspruch an ihn, etwas, was ihn auserwählt und zu Weitem beruft. Nur in diesem Sinne, als Aufgabe, an sich zu arbeiten (‚zu horchen und zu hämmern Tag und Nacht’), dürften junge Menschen die Liebe, die ihnen gegeben wird, gebrauchen.“

Hier zitiert Rilke sich selber: Die Wendung vom Arbeiten, Horchen und Hämmern hatte er 1902 in seinem ersten Rodin-Aufsatz benutzt.

Der Einfluss des französischen Bildhauers auf den deutschen Dichter kann gar nicht überschätzt werden. Rilkes berühmte Dinggedichte, darunter „Der Panther“ und „Archaischer Torso Apollos“ (mit dem prominenten Schlusssatz „Du musst dein Leben ändern“), entstanden in der Pariser Zeit an der Seite Rodins, genau wie der Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“.

Auch in den „Briefen an einen jungen Dichter“ ist Rodin präsent. Dessen Künstlerethos hatte Rilke im September 1902 seiner Frau Clara Westhoff wie folgt geschildert: „Il faut travailler, rien que travailler. Et il faut avoir patience.“ – „Man muss arbeiten, nur arbeiten. Und man muss Geduld haben.“

Rilke und Russland

Doch noch bevor Rilke in Frankreich zu literarischer Inspiration fand, hatte es ihm der Osten angetan. „Für den jungen, Orientierung suchenden Rilke war Russland ein ungemein sinnliches Erlebnis. Seine früheste Erfahrung, der Schlag der Glocke von Iwan Weliki im Kreml, sollte sein Leben lang nachhallen, und zum Schauen, das für seine Dichtung wichtig wurde, ist er nicht erst in Paris, sondern angesichts der Wolgalandschaft und der russischen Malerei ‚aufgewacht’“, erklärt Thomas Schmidt, künstlerischer Leiter der Ausstellung „Rilke und Russland“, die zuerst im Literaturmuseum der Moderne in Marbach, dann bis zum 10. Dezember in Zürich und Bern zu sehen war und nun weiter nach Moskau zieht.

Prof. Ulrich Raulff vom Deutschen Literaturarchiv freut sich über die Kooperation, denn „in politisch schwierigen Zeiten hat das Zusammenwirken von drei Museen – in der Schweiz, Russland und in Deutschland – und zahlreicher Archive, davon 14 allein in Russland, eine Forschungsleistung erbracht, die ihresgleichen sucht – und eine museale Präsentation, die ihrerseits Epoche machen wird.“ Rilke sei Dank.

Infolge zweier Reisen, die er mit der in St. Petersburg aufgewachsenen 14 Jahre älteren Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé unternahm, war Russland um die Jahrhundertwende Rilkes Sehnsuchtsort sowie spirituelle Heimat geworden, wovon unter anderem „Das Stunden-Buch“ zeugt.

Sie hatten das orthodoxe Osterfest erlebt und den greisen Tolstoi auf Jasnaja Poljana besucht sowie den Maler Leonid Pasternak und dessen zehnjährigen Sohn Boris getroffen. Das Urteil des späteren Literaturnobelpreisträgers – „Rilke ist ganz russisch. Wie Gogol. Wie Tolstoi!“ – wird in Russland laut Ausstellung bis heute geteilt, ist er dort nicht nur einer der meistgelesenen fremdsprachigen Autoren, sondern wird sogar „als Teil der eigenen Kultur wahrgenommen“.

So wirkt Rainer Maria Rilke bis heute nach Westen wie nach Osten, ganz ein Dichter aus dem „Volk der Mitte und Vermittlung“ (Hugo von Hofmannsthal).

Amelie Winther

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 8. Dezember 2017

DER ANSPRUCH AUF ZUKUNFT

„Zahlreiche Stör- und Blockadeaktionen“, wie die Polizei es formulierte, begleiteten den AfD-Parteitag in Hannover. Auf einem der Antifa-Transparente war zu lesen: „THERE IS NO GERMAN ZUKUNFT“. Das scheint tatsächlich der zentrale Streitpunkt zu sein: Soll das deutsche Volk – an dieser Stelle bitte keine voreilige Aufregung, das Grundgesetz selbst verpflichtet deutsche Politik auf Wohl und Wehe dieses Volkes – eine Zukunft haben? Die Frage hat auch eine menschenrechtliche Dimension.

KAHLSCHLAG IN SACHSEN

Der Technologiekonzern Siemens will rund um den Globus 6.900 Stellen streichen, davon etwa die Hälfte in der Bundesrepublik Deutschland. Auch zwei Turbinenwerke in Sachsen, nämlich in Görlitz und Leipzig, sollen der Globalisierung geopfert und geschlossen werden.

UNGARNS VOLKSBEFRAGUNG

Was kommt der Realität näher: Die Öffentlichkeitsarbeit der ungarischen Regierung gegen die Aktivitäten von George Soros oder das Bild, das der US-Milliardär von Ungarn zeichnet?

MONSANTO-MINSTER SCHMIDT?

Die Folgen des Alleingangs des CSU-Politikers Christian Schmidt in der Glyphosat-Frage sind noch nicht vollständig abzusehen. Doch es geht nicht nur um eine Verstimmung zwischen Union und SPD.

NACHVERDICHTUNGSSORGEN

Im „Bayerischen Transitzentrum Manching-Ingolstadt“ sind 1.300 Asylbewerber mit geringer Bleibewahrscheinlichkeit untergebracht. Bei der Taschengeld-Ausgabe gab es jüngst handfesten Ärger. Was geht da vor?

DIE SONNE OPTIMAL NUTZEN

Obwohl Photovoltaik-Anlagen auf dem Weltmarkt Konjunktur haben, sieht die Solarbranche die energiepolitische Vorreiterrolle der Bundesrepublik Deutschland angesichts mehrerer Versäumnisse ernstlich gefährdet.

ZWISCHEN BLAUER BLUME UND SCHWARZ-ROT-GOLD

Zwischen 1790 und 1830 prägte die Romantik das künstlerische Leben in Deutschland. Dabei war sie aber mehr als eine Kunstepoche. Die Romantik wurde, ergänzt durch politische Gedanken und vor dem Hintergrund der Befreiungskriege, Geburtshelferin des deutschen Geschichts- und Nationalbewusstseins.

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