Nr. 48 vom 22.11.2019
Standpunkt
Die Gastbeiträge des Paul Ziemiak
Rechtzeitig zum Leipziger CDU-Parteitag zierte ein „Gastbeitrag von Paul Ziemiak“ die Seiten von „Spiegel Online“ – wie auch die des „Focus“. Doch ist der CDU-Generalsekretär weder als Edelfeder bekannt noch weist er – sieht man von seinen gescheiterten Versuchen ab, ein Studium abzuschließen – sonstige Qualifikationen auf. Dass er im „Spiegel“ das Wort ergreifen durfte, verdankt Ziemiak nur einer Gemeinsamkeit: dem Kampf gegen die AfD.
Dessen eingedenk überschrieb der CDU-Politiker seinen Beitrag für den „Spiegel“ so: „Die AfD ist die Anti-Deutschland-Partei“: Die Alternative für Deutschland, heißt es da, betreibe „eine staatsfeindliche und rückwärtsgewandte Politik“ und „eine Zusammenarbeit mit ihr wäre ein Verrat an unseren christdemokratischen Werten“.
Es folgt eine Reihe von Begründungsversuchen. So seien am 1. September 2018 in Chemnitz „erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte Vertreter einer Bundestagspartei mit Nazis gemeinsam Seite an Seite auf die Straße“ gegangen, behauptet Ziemiak, dem auch das Wesen einer öffentlichen Versammlung (jedermann hat das Recht, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen, § 1 Absatz 1 Versammlungsgesetz) bei seinen juristischen Bemühungen offenbar verborgen blieb. Und die Nachkriegsgeschichte in diesem Zusammenhang aufzurufen, ist für einen CDU-Politiker heikel, denn es war ein folgenschwerer – und die Bundesrepublik teuer zu stehen kommender – Fehler schon des ersten CDU-Vorsitzenden Konrad Adenauer, ausgerechnet einen echten und noch dazu schwer belasteten Nationalsozialisten wie Hans Globke zum Chef des Bundeskanzleramts zu machen.
Auch das Deutschland „vor 20 oder 30 Jahren“
ist nun angeblich tabu
Ziemiaks These „Aus blau wird braun“ wird nicht plausibler, wenn er schreibt: „Welches Deutschland will die AfD eigentlich? Die AfD sucht Deutschlands Zukunft in der Vergangenheit. Der moderne deutsche Konservatismus ist aber nicht rückwärtsgewandt, sondern liefert Antworten auf Zukunftsfragen. Die Sehnsucht der AfD nach dem, wie Deutschland angeblich vor 20 oder 30 Jahren mal gewesen sein soll, ist doch schwer verständlich. Das Heute kann nicht die Fragen von morgen mit Ansätzen von gestern beantworten. Zumal unser Land offener, freier, gelassener, heiterer geworden ist.“
Rechnen wir nach: Vor 30 Jahren hatten wir 1989, vor 20 Jahren 1999. Damals wurde die Bundesrepublik von Helmut Kohl beziehungsweise Gerhard Schröder regiert. Wenn das die „Ansätze von gestern“ sind, die Ziemak nur mit „schärfster Abgrenzung“ beantworten will, dann ist das bemerkenswert. Und Geschmacks- und Ansichtssachen wie die, ob „unser Land offener, freier, gelassener, heiterer geworden ist“ (oder, wie andere meinen, reglementierter, unfreier, angespannter, gedrückter), rechtfertigen eine derart totale Kampfrhetorik auch nicht.
Verleugnend, wie die AfD dem Bundestag wieder zu einer lebhafteren, kontroversen Debattenkultur verhalf und die Wahlbeteiligung überall in die Höhe schnellen ließ, proklamiert Ziemiak: „Wir werden nicht zulassen, dass die AfD im Mantel der Bürgerlichkeit schleichend die Erosion der Demokratie in unserem Land betreibt und sich als vermeintliches konservatives Korrektiv inszeniert.“
Jongens Replik
Zur Untermauerung des Vorwurfs „nationalistisches Weltbild“ behauptet Ziemiak unter anderem, der stellvertretende baden-württembergische Landessprecher Marc Jongen fabuliere „vom ‚Abstammungsprinzip‘ als Voraussetzung, Deutscher sein zu können“, und der sächsische Landesvorsitzende Jörg Urban fordere „die Homogenität der deutschen Gesellschaft ein“.
Dr. Marc Jongen wehrt sich mit beachtlichen Argumenten: „Drollig an dieser Gruselgeschichte: Auf der Internetpräsenz der Bundesregierung ist zu lesen: ‚Bis 2000 galt in Deutschland ausschließlich das Abstammungsprinzip. Ein Kind wurde mit Geburt deutsch, wenn mindestens ein Elternteil deutsch war.‘ Die Abschaffung dieses Prinzips erfolgte unter der Regierung Schröder – gegen den Widerstand der CDU, die verfassungsrechtliche und andere schwere Bedenken vorbrachte, insbesondere wegen der dadurch entstehenden Doppelstaatigkeit vieler Türkischstämmiger.“
Jongen fährt fort: „Was die CDU damals also noch für richtig und verteidigenswert befand, das gilt ihr heute, 20 Jahre später, als ganz böse, rechtsextrem und ‚nazi‘. Paul Ziemiak beweist mit seinen peinlichen Auslassungen nicht nur historische Unbildung, sondern bezeugt auch unfreiwillig den rapiden Verfall der CDU von einer bürgerlichen Partei zur willigen Vollstreckerin linker bis linksradikaler Ideen.“
Ohne relative Homogenität keine Demokratie
Und wie verhält es sich mit dem Vorwurf, Urban fordere „die Homogenität der deutschen Gesellschaft ein“? Kein Geringerer als der Sozialdemokrat und Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Dr. Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–2019) hat in der Studie „Demokratie als Verfassungsprinzip“ (zuerst erschienen im „Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland“, hier zitiert nach Böckenfördes Sammelband „Staat, Verfassung, Demokratie“) dargelegt: „Wesentliche gesellschaftliche Voraussetzungen der Demokratie sind das Vorhandensein einer gewissen Emanzipationsstruktur der Gesellschaft, die Abwesenheit theokratischer Religionsformen mit universalem Lenkungsanspruch sowie das Bestehen einer relativen Homogenität innerhalb der Gesellschaft.“
Demokratische Formen der Willensbildung vermögen laut Böckenförde nur dann „die erforderliche Integration und den Friedenszustand des politischen Gemeinwesens zu bewirken und zu erhalten, wenn ihnen eine zwar nicht absolute – sie würde die Freiheit aufheben –, aber doch relative Homogenität zugrunde liegt“. Relative Homogenität zeige sich „als ein sozial-psychologischer Zustand, in welchem die vorhandenen politischen, ökonomischen, sozialen, auch kulturellen Gegensätzlichkeiten und Interessen durch ein gemeinsames Wir-Bewusstsein, einen sich aktualisierenden Gemeinschaftswillen gebunden erscheinen“. Im Wesentlichen sei relative Homogenität „gleichbedeutend mit der vorrechtlichen Gleichartigkeit als der metarechtlichen Grundlage demokratischer Gleichheit“.
Böckenförde stellte dar, dass schon das Bestehen eines Staates als politische Einheit und Friedenseinheit eine gewisse relative Homogenität voraussetzt. Die staatliche politische Einheit könne „nicht aus und mit einem Übermaß von Dissoziationen und Antagonismen leben“. Das Maß an relativer Homogenität, das die Demokratie erfordere, gehe darüber noch hinaus.
Über die Grundlage der relativen Homogenität in diesem Sinne schrieb Böckenförde: „Sie kann in ethnisch-kultureller Eigenart und Tradition, in gemeinsam durchlebter politischer Geschichte, in gemeinsamer Religion, gemeinsamem nationalen Bekenntnis u. ä. ihren Grund haben.“ Ein Stück weit sei sie vorgegeben; sie könne „aber auch, da sie sich wesentlich auch als Übereinstimmung im Bewusstsein darstellt, allmählich entstehen und wachsen“.
Wenn relative Homogenität die Voraussetzung der Demokratie ist, so ist unbestreitbar, dass Fortdauer oder Zerfall der Homogenität in einer Gesellschaft über den Bestand der Demokratie entscheiden. In den letzten vier Jahren sind viele Schritte erfolgt, das künftige „Wir-Bewusstsein“ innerhalb der Bundesrepublik zu untergraben, und gleichzeitig wurden Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich von der bisherigen Gemeinschaft abspaltende „Wir-Gefühle“ in zunehmend größeren Teilen der – veränderten – Bevölkerung bilden.
Es ist nicht die Schuld der AfD, wenn Ziemiak bei dem demokratietheoretisch so wichtigen Wort Homogenität nicht an Böckenfördes schon klassischen staatsrechtlichen Text denkt, sondern ihm dabei ein plattes „So fing es auch schon 1933 an“ einfällt.
Wer verletzt das Recht auf verfassungsmäßige
Ausübung einer Opposition?
„Wahre Patrioten“ würden „den Zusammenhalt Deutschlands wollen und nicht die Spaltung des Landes herbeiführen“, meint Ziemiak. Aber bekanntlich hat nicht die AfD die Deutschen gespalten, sondern die von seiner Partei und deren damaliger Vorsitzender betriebene Politik des „Jeder kann rein“.
Unfreiwillig komisch ist Ziemiaks Vorwurf „Die AfD grenzt aus und macht Politik auf Kosten von Minderheiten“, während er an ihr genau das vollzieht – Ausgrenzung und Diskriminierung. Man denke auch an den bis heute aufrechterhaltenen Ausschluss der Partei aus dem Bundestagspräsidium, der einen Verstoß gegen ein grundlegendes Prinzip der freiheitlichen demokratischen Grundordnung – nämlich gegen die Chancengleichheit für alle politischen Parteien einschließlich des Rechts auf verfassungsmäßige Ausübung einer Opposition – darstellt.
Eine gesetzliche Aufgabe der Bundespolizei
Einen Mangel an Logik verrät auch, was der CDU-Generalsekretär im „Focus“ verbreitet. Außer der Schallplatte „Die AfD sucht auf die Fragen der Zukunft Antworten in der Vergangenheit“ spielt er dort das Lied auf die Chefin: „Es ist richtig, dass Annegret Kramp-Karrenbauer in der Außen- und Sicherheitspolitik einen klaren Punkt gesetzt hat. Europa und Deutschland müssen mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Migration können wir nur steuern, wenn wir dort, wo sie entsteht – also im Mittleren Osten und in Afrika – präsenter sind.“
Dabei sind die Migrationswellen des letzten Jahrzehnts auch ein Ergebnis dessen, dass der Westen, allen voran die USA, „mehr Verantwortung in der Welt“ übernommen hat. Und die Bundeswehr ausrücken zu lassen, damit sie Migration steuere (obwohl es zu den gesetzlichen Aufgaben der Bundespolizei gehört, an der Bundesgrenze zu vollziehen, wer ins Bundesgebiet einreisen darf und wer nicht), erscheint weder zielführend noch angemessen noch völkerrechtskonform. Würde die von der Regierung Merkel im September 2015 bei Wiedereinführung von „Grenzkontrollen“ außer Anwendung gesetzte – und mit EU-Recht konforme – Regelung des § 18 Absatz 2 Nr. 1 Asylgesetz, wonach Migranten, die über einen sicheren Drittstaat anreisen, die Einreise zu verweigern ist, wieder vollzogen, hätte dies einen Steuerungseffekt, den keine außen- und sicherheitspolitische Maßnahme Berlins je erreichen kann.
Aber wirklich etwas zu ändern, kommt für Ziemiak – wie für Merkel und AKK – nicht infrage. Er begreift die „Debatte mit der AfD“ als „einen Kampf um die Stimmung im Land, um eine inhaltliche Schärfung und das Besetzen von Begriffen“. Umzusteuern, faktisch und nicht nur taktisch etwas zu ändern – das zieht man nicht in Betracht.
Ulrich Wenck
Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 22. November 2019
EINFLUSSNAHME AUF DEN
BRITISCHEN WAHLKAMPF
Verschwörungstheorien kursieren im britischen Wahlkampf: der Kreml beeinflusst die Tories und Nigel Farage ist ein Agent Trumps. Über eine ganz reale Art der Einmischung hingegen wird weniger aufgeregt diskutiert. EU-Ratspräsident Tusk empfiehlt den Gegnern des Brexits „nicht aufzugeben“ und prophezeit dem Vereinigten Königreich ein Dasein als erfolgloser „Außenseiter“.
SCHWEDENS KRIMINALITÄTSPROBLEM
Dänemark hat wieder Grenzkontrollen am Öresund, der Kopenhagen und das südschwedische Malmö verbindet, eingeführt und diesen Schritt mit dem Kampf gegen das organisierte Verbrechen erklärt. In der Tat erlebt Schweden eine Welle explodierender Gewaltkriminalität. Über die Ursachen und die Folgen wird gestritten.
WOHNUNGSLOSIGKEIT NIMMT ZU
In der Bundesrepublik Deutschland sind immer mehr Menschen wohnungslos. Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe waren 2018 schon 678.000 Personen betroffen. Was tun?
SIND PATIENTENDATEN SICHER?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn polarisiert mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz und der Masern-Impfflicht nicht nur, sondern beide Vorstöße sind auch verfassungsrechtlich umstritten. Werden hier „Persönlichkeitsrechte zu Markte getragen“, wie Experten befürchten?
KONFLIKTREICHES ZUSAMMENLEBEN
Wie gut lebt es sich in der Bundesrepublik Deutschland? In etlichen Wohnquartieren nicht so gut wie noch vor fünf Jahren, glaubt man einer jetzt vorgestellten Studie des Forschungsinstituts „Minor Wissenschaft und Gesellschaft mbH“: Armut Segregation, Diversität: Wo es hakt.
MENSCHLICHER URAHN AUS DEM
ALLGÄU
Aufrechter Gang schon vor 11,6 Millionen Jahren: Der Sensationsfund aus einer Tongrube im Ortsteil Hammerschmiede der Gemeinde Pforzen im Ostallgäu wirbelt die Anthropologie gehörig durcheinander. Warum nun die Menschheitsgeschichte umgeschrieben werden muss.
TRISTE STIMMUNG
Auch die beiden letzten Länderspiele der Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes in diesem Jahr – gegen Weißrussland und Nordirland – waren nicht ausverkauft. Zigtausende Plätze blieben leer. Der DFB ist um Erklärungen nicht verlegen. Die greifen allerdings zu kurz.