Nr. 47 vom 15.11.2019

Nr. 47 vom 15.11.2019

Standpunkt

Eine Nachfolgerin, aber kein Ersatz

Der 12. November, den Sahra Wagenknecht zuletzt nach eigenem Bekunden sogar „herbeigesehnt“ hatte, machte das Ende mehrerer die Linkspartei betreffender Irrtümer für jedermann unübersehbar. Wagenknecht ist nicht mehr deren Fraktionsvorsitzende im Bundestag. Zu ihrer Nachfolgerin wurde die 1980 in Hamburg geborene Juristin Amira Mohamed Ali gewählt.

Wagenknecht wahrte bis zuletzt Haltung, wenngleich ihre Züge auf der Sitzung der Linksfraktion auch Bitternis verrieten. „Sahra Wagenknecht wird ein Gesicht der Linken bleiben“, beteuerte Dietmar Bartsch, bisher ihr und nun Mohamed Alis Co-Fraktionschef. Doch der Bruch ist zu deutlich, als dass Wagenknecht der Linkspartei noch als Symbolfigur dienen könnte. Und kein Wähler kann mehr mit der irrigen Überlegung „Aber die Wagenknecht …“ bei der Partei „Die Linke“ sein Kreuz machen und dabei ausblenden, dass er doch nur Kipping und Riexinger bekommt. Auch Wagenknecht selbst zieht damit einen offiziellen Schlussstrich unter einen Irrtum – sie musste sich eingestehen, dass sie in einer Partei, die „links“ mit „multikulturell“ und für jedermann „offenen Grenzen“ verwechselt, ihr soziales Empfinden für das eigene Wahlvolk im Ergebnis nicht verwirklichen kann.

Die Partei stellte die Weichen falsch

Schon mit dem im Frühjahr angekündigten Rückzug der 50-Jährigen war klar, dass die Linkspartei Wagenknechts Kurs nicht folgen würde. Der Richtungsstreit war verloren. Aus Sicht der Partei dürfte sich dies als vollkommen falsche Entscheidung erweisen.

Bodo Ramelows Sieg in Thüringen rührte bekanntlich im Wesentlichen vom Ministerpräsidentenbonus für einen nicht ganz typischen Linkspolitiker. Unterdessen laufen der Linkspartei im restlichen ehemaligen Kerngebiet, dem Osten der Republik, die Wähler scharenweise weg. Anders ist das desolate Ergebnis von 10,4 Prozent in Sachsen (2009 noch 20,6 Prozent) und 10,7 Prozent in Brandenburg (2009: 27,2 Prozent) nicht zu erklären. Das Potenzial der vormaligen Nichtwähler und auch der jüngeren Generation konnte die Linke bei den diesjährigen Landtagswahlen, im Gegensatz zur AfD, nicht nutzen. Zudem verlor sie an den blauen Konkurrenten 27.000 Wähler in Sachsen, 12.000 in Brandenburg und selbst in Thüringen 18.000.

Die Linken-Regierungsbeteiligung in Bremen ist ebenfalls ein Sonderfall, wegen der Klientel, auf die vor allem die Parteivorsitzende Katja Kipping gerne schielt. Der „Spiegel“ charakterisierte das „Publikum, das Kipping mag“, Anfang 2018 so: „unter 35 Jahre alt, gebildet, urban“. Der Artikel fährt fort: „Auf der einen Seite steht die Parteichefin, die von einer Welt ohne Schlagbäume träumt und ‚offene Grenzen für alle’ fordert. Auf der anderen Seite Fraktionschefin Sahra Wagenknecht, 48, die einst von ganz links kam und nun die enttäuschten Wähler aus dem Osten von den Rechten zurückholen will.“ Und: „Kippings absolute Horrorvision wären neue ‚Querfrontler’, die eine Verbindung nach rechts suchten und das Nationale hochhielten.“

Verwaiste Positionen

Vor allem wegen ihrer Ansichten zur Migrationspolitik war Sahra Wagenknecht in der Linkspartei immer weiter isoliert worden. Die Forderung „offene Grenzen für alle“ nannte sie „weltfremd“, eine sinnvolle Alternative zum Nationalstaat kann die promovierte Volkswirtin außerdem nicht erkennen, genauso wenig, wie sie an die baldige Entstehung supranationaler Demokratien glaubt, „weil wichtige Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie auf dieser Ebene fehlen“.

Um Wagenknechts Nachfolge an der Spitze der Fraktion hatten sich beworben: Caren Lay, die als Kipping-Vertraute gilt und eine Empfehlung von Parteichef Bernd Riexinger vorweisen konnte, und die eher unbekannte Amira Mohamed Ali. Am Dienstagabend setzte sich Mohamed Ali in einer Kampfabstimmung mit 36 zu 29 Stimmen gegen Lay durch.

Die 39-jährige Rechtsanwältin aus Oldenburg, Tochter eines ägyptischen Vaters und einer deutschen Mutter, ist erst seit 2015 Mitglied der Linkspartei, kam aber 2017 gleich in den Bundestag. Sie hat selbstredend ein weniger scharfes Profil als ihre Konkurrentin Lay, der realistische Positionen in der Migrationspolitik fernliegen.

Mohamed Alis einzige tatsächliche Chance, die bei den Wählern äußerst populäre Wagenknecht annähernd zu ersetzen, wäre, deren Kurs aufzunehmen und ihm in der Partei weiterhin Gehör zu verschaffen. Doch frühere Aussagen der neuen Fraktionschefin schließen das aus. Von der Kipping/Lay-Linie hebt sie sich nicht wahrnehmbar ab.

„Aufgerieben von internen Angriffen“

Der dpa erklärte Wagenknecht ihre Entscheidung, nicht wieder für den Fraktionsvorsitz zu kandidieren, noch einmal so: „Ich war irgendwann aufgerieben von den ständigen internen Angriffen und musste einsehen, dass ich ohne diese Funktion und den ständigen Druck politisch wahrscheinlich mehr bewegen kann.“ Sie wolle weiterhin „politisch etwas bewegen, und deswegen werde ich natürlich auch nach wie vor meine Positionen öffentlich vertreten und dafür werben“. Damit kann sie dann aber nicht mehr als Aushängeschild einer Partei dienen, deren Führung wesentliche dieser Positionen ausdrücklich ablehnt.

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 15. November 2019

BLAUE WELLE UNTER JUNGEN WÄHLERN

Von wegen „alte weiße Männer“: Die AfD hatte in Sachsen und Thüringen bei der Gesamtheit der Wähler zwischen 18 und 59 Jahren die Nase vorn. In Thüringen gaben 24 Prozent der Wähler zwischen 18 und 29 Jahren dieser Partei ihre Stimme und machten sie somit zur klar stärksten Kraft in dieser Altersgruppe.

WAS WÄRE, WENN …

Nach wie vor ist unklar, wie es in Thüringen nach der Wahl weitergehen könnte. Die Bildung einer neuen Landesregierung bahnt sich noch nicht an. Unterdessen sorgen CDU-Politiker mit ihren Stellungnahmen gegen einen hartnäckigen Ausgrenzungskurs für heftige Diskussionen.

DEN BOGEN ÜBERSPANNT?

Angehörige der autonomen Szene in Leipzig sind in letzter Zeit auf brutale Weise gegen Sachen und Personen vorgegangen. Nach dem Überfall auf eine Immobilienentwicklerin wurde nun die Soko LinX eingerichtet.

ÖSTERREICH VOR WEICHENSTELLUNG

Offizielle Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP und den „Grünen“ laufen. Sebastian Kurz und Werner Kogler geben sich demonstrativ optimistisch. Ist Türkis-Blau damit endgültig vom Tisch? Darüber gehen die Meinungen in den verschiedenen Lagern auseinander.

DURCHBRUCH BEIM BREXIT?

Großbritanniens Premierminister Boris Johnson und Nigel Farage, Brexiteer der ersten Stunde, reichen einander vor den anstehenden Neuwahlen die Hand. Die Chancen der Tories auf einen Wahlsieg erhöhen sich nach dem Teilrückzug der Brexit Party erheblich.

DAS ZU BEWAHRENDE

Im intellektuellen Leben Frankreichs führt gerade kein Weg an dem Reiseschriftsteller Sylvain Tesson vorbei, einem in der Tat außergewöhnlichen Mann, der mit seinen Ansichten über eine „kohärente Ökologie“ zum Nachdenken anregt: Wer die Natur schützen wolle, der müsse auch „Kulturen und die Einzigartigkeit der Völker“ bewahren.

HOMERS DICHTUNG,
SCHLIEMANNS WAHRHEIT

Am 21. November eröffnet das British Museum in London die Ausstellung „Troja: Mythos und Realität“. „The Times“ prophezeit einen „Straßenfeger“. Im Mittelpunkt stehen Funde Heinrich Schliemanns, der einst mit dem Spaten in der einen, mit Homer in der anderen das legendäre Ilion entdeckte.

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