Nr. 46 vom 9.11.2018
Standpunkt
Der Migrationspakt spaltet
Bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki am 2. November wurde Bundeskanzlerin Merkel auf die österreichische Abkehr vom „Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“ („Globaler Pakt für sichere, geordnete und geregelte Migration“, GCM) angesprochen. Sie eierte so sehr herum, dass eine wörtliche Wiedergabe der Antwort kaum zumutbar ist. „Von deutscher Seite aus“ habe man „intensiv an diesem Migrationspaket“ mitgewirkt, sagte sie. Es müsse hinsichtlich illegaler Migration einen internationalen Austausch geben, dahingehend, „dass wir uns […] gleichermaßen für legale Wege der Kooperation entscheiden, entweder durch geordnete, geregelte Fachkräftezuwanderung oder aber durch humanitäre Verpflichtungen, wie es das zum Beispiel bei Quoten im Zusammenhang mit dem UNHCR gibt“. Merkels Schlusswort: „All das ist in diesem Migrationspakt aus meiner Sicht sehr richtig dargelegt – er ist rechtlich nicht bindend –, und deshalb steht Deutschland dazu.“
Besonnener, sowohl rhetorisch als auch inhaltlich, bezog Morawiecki Stellung. Er hielt fest, „dass wir diesen Migrationspakt nicht mittragen werden. Wir sind nämlich der Auffassung, dass unsere souveränen Regeln in Bezug auf den Außengrenzschutz und die Migrationskontrolle für uns absolute Priorität haben.“
Das Nein aus Wien
„Österreich wird dem UN-Migrationspakt nicht beitreten.“ Diese Stellungnahme von Bundeskanzler Sebastian Kurz am 31. Oktober war es, die zum ersten Mal auch in der Bundesrepublik Deutschland eine große Öffentlichkeit für den GCM herstellte. Dabei soll der Pakt, der seit September 2016 ausgehandelt und im Juli auf 34 englischsprachigen Seiten niedergelegt worden ist, in vier Wochen, bei einer Konferenz in Marrakesch am 10. und 11. Dezember, unterzeichnet werden.
Kurz hatte den Rückzug damit begründet, dass seine Regierung „einige Punkte des Migrationspaktes sehr kritisch“ sehe, „etwa die Vermischung der Suche nach Schutz mit Arbeitsmigration“. Außerdem wolle man „eine mögliche, künftige Bindung durch Völkergewohnheitsrecht verhindern“.
„Wir haben in der Regierung erhebliche Bedenken gegenüber Inhalten und Zielen des UN-Migrationspakts“, ergänzte Vizekanzler Heinz-Christian Strache. Innenminister Herbert Kickl erkannte in dem Pakt eine „naive Tonalität pro Migration“. Der GCM schaffe neue Pull-Faktoren, erklärte der FPÖ-Politiker.
Diskussion in der Union
Reichlich spät kam mit dem Wiener Nein die bundesdeutsche Diskussion in Gang. Die CDU soll über den GCM auf dem Parteitag am 8./9. Dezember, also wenige Tage vor der geplanten Unterzeichnung, beraten. Einen entsprechenden Antrag hat die „Werte Union“ angekündigt.
Alexander Mitsch, Vorsitzender der „Werte Union“, befürchtet hinter dem GCM ein „Trojanisches Pferd“ „hinsichtlich der Förderung massenhafter, ungesteuerter und illegaler Einwanderung nach Westeuropa und speziell Deutschland“. Es sei ferner davon auszugehen, dass der Pakt „Klagen gegen abgelehnte Asyl- und Bleiberechtsanträge mit vollkommen offenem Ausgang“ den Weg bereite. Ein weiterer Kritikpunkt: „Im Vertragswerk ist gerade das Recht auf Zugang zu den Sozialsystemen für Migranten eines der Hauptanliegen. Dabei differenziert der Pakt nicht mehr zwischen legaler und illegaler Migration, sondern spricht nur noch von geregelter und ungeregelter Migration, die sich in den ihnen durch den Pakt zugesprochenen, umfangreichen Rechten nicht mehr unterscheiden.“ Mitsch konstatierte, dass „ein Vertragswerk mit so gravierenden Auswirkungen auf die Gesellschaft unseres Landes“ nicht ohne Mitwirkung und Zustimmung der Volksvertreter unterzeichnet werden dürfe.
Die Schweiz kurz vor dem Rückzug
Befürworter des Übereinkommens geraten regelrecht in Panik angesichts des zu erwartenden Dominoeffekts nach der Entscheidung der österreichischen Regierung. Denn nachdem bereits die USA und Ungarn frühzeitig aus dem GCM ausgestiegen sind und Australien sein Einverständnis verweigern will, sind neben Polen auch Tschechien und Kroatien so gut wie raus. Slowenien und Dänemark haben ebenfalls große Vorbehalte.
In der Schweiz erfährt der Widerstand gegen den Migrationspakt neue Belebung, nachdem am 2. November die Nationalratskommission dem Bundesrat den Rückzug empfohlen hat. Die Schweiz solle sich „nicht international für Zielsetzungen einsetzen, die in Widerspruch zu schweizerischem Recht treten könnten. Dies schadet einer kohärenten schweizerischen Migrationspolitik.“
Schon am 19. Oktober hatte die Kommission die Regierung beauftragt, der Bundesversammlung den GCM zum Beschluss vorzulegen. „Aufgrund der sensiblen Thematik (Zuwanderung) und des sehr weitreichenden Gehalts des Vertragswerkes“ solle „sich das Parlament vertieft mit den möglichen Folgen für die Schweiz beschäftigen und über die Zustimmung zum Migrationspakt befinden“. Das Parlament brauche genügend Zeit, deshalb solle der Bundesrat „vorerst auf seine Zustimmung verzichten resp. damit zuwarten, bis der Gesetzgeber seinen Willen ausgedrückt hat“.
Die Kommission wies darauf hin, dass es sich beim GCM um „Soft Law“ handle, das für die Schweiz zwar nicht rechtlich, wohl aber „politisch verpflichtend ist. Das bedeutet, dass sich aus der Zustimmung zum Migrationspakt zu einem späteren Zeitpunkt gesetzgeberischer Handlungsbedarf ableiten lässt.“
Dass die Regierung ein Dokument unterzeichnen lassen will, dessen Auswirkungen sie gar nicht absehen kann, klingt für die Bürger zu Recht beunruhigend. Der Schweizer Außenminister Ignazio Cassis war diesbezüglich schon am 19. September in einem NZZ-Interview in Verlegenheit geraten. Man könne „nicht ausschließen, dass wir mit der Unterzeichnung auch Verpflichtungen eingehen, die wir vielleicht gar nicht wollen“, räumte er ein. Übrigens erklärte Cassis mittlerweile, es „wäre keine Katastrophe“, den GCM nicht zu unterschreiben.
Skepsis wird auch innerhalb der Schweizer bürgerlich-liberalen FDP laut. Die „Neue Zürcher Zeitung“ fasste am 4. November zusammen: „Montesquieu, so spottete etwa der Appenzeller Ständerat Andrea Caroni am Wochenende auf Twitter, hätte zu diesem Dokument folgendes gesagt: ‚Wenn es nicht nötig ist, eine Vereinbarung zu unterzeichnen, ist es nötig, sie nicht zu unterzeichnen.’ Selbst der ausgesprochen moderate Solothurner Nationalrat Kurt Fluri erklärte den Medien zum großen Ärger einiger Linker, der Migrationspakt schaffe ‚gewissermaßen Anreize’ für Migranten.“
Es ist sehr schwer, die vielfältige Schweizer Kritik am GCM als „Rechtspopulismus“ oder „diffuse Ängste“ zu diskreditieren.
Keine demokratische Beteiligung
In der Bundesrepublik Deutschland blieb es der AfD vorbehalten, den Migrationspakt zu thematisieren. Für den 8. November war eine einstündige Diskussion im Bundestag über einen AfD-Antrag auf Nichtunterzeichnung vorgesehen. In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Oppositionsführerin hatte die Bundesregierung im April das Ausbleiben einer förmlichen Befassung des Bundestags damit begründet, dass der GCM rechtlich nicht verbindlich sei.
Eine späte Mahnung formulierte jetzt Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU): „Wie kann man bei einem so sensiblen Thema nur so technokratisch agieren? Die Lehre aus 2015 muss doch für die Bundesregierung sein: höchstmögliche Transparenz, Information und Diskussion im Parlament und der Öffentlichkeit.“
Zur Transparenz gehört auch die Information, dass in den zwischenstaatlichen Entstehungsprozess des GCM verschiedene Ministerien, zivilgesellschaftliche Organisationen, multinationale Konzerne und Migranten involviert waren – die Bevölkerung aber weder durch eine Debatte im Parlament noch direktdemokratisch und nicht einmal durch eine ausreichende mediale Berichterstattung beteiligt war.
Wirtschaftliche Interessen
Der Volkswirt Norbert Häring, Wirtschaftsredakteur beim „Handelsblatt“, beleuchtete in einem Blogeintrag vom 21. Juli das „intensive Lobbying der im Weltwirtschaftsforum versammelten internationalen Großkonzerne […], die hochmobile Arbeitskräfte sehr nützlich finden“, für den GCM. Auf der Netzseite des WWF findet man tatsächlich laute Lobgesänge auf den Migrationspakt.
Die Internationale Organisation für Migration (IOM), die maßgeblich an der Ausarbeitung des GCM beteiligt war, hat enge Verbindungen nach Davos. Beim WWF nannte William Lacy Swing als IOM-Generaldirektor 2014 den „Megatrend Migration“ „unumgänglich, nötig und, wenn richtig gesteuert, wünschenswert“, und argumentierte mit der Demografie: „Während der Norden überaltert, fehlt den Menschen im Süden Arbeit.“
Mit Menschenrechten und Humanität hat es aber wenig zu tun, die geburtenstarken Länder zum demografischen Selbstbedienungsladen der reproduktionsschwachen Industrienationen zu deklarieren und dabei keinen Gedanken an die zur Disposition gestellte spezifische Identität der Völker und den inneren Frieden der Staaten zu verschwenden.
IOM-Chef Swing, der für Angela Merkel („eine Visionärin der offenen Grenzen“) die „allergrößte Bewunderung“ hegt, vertrat 2015 – wieder in Davos – die Meinung, man müsse sich mit den „Gegensätzen von nationaler Souveränität und individueller Freiheit, nationaler Sicherheit und menschlicher Sicherheit auseinandersetzen“. Könne man diese Widersprüche „in einer Formel zusammenfassen, wird alles gut“. Er bedauerte, dass es „im Moment nicht genug politischen Mut zur Migration“ gebe, auch weil „wir in einer Zeit leben, in der die Stimmung gegen Migration am größten ist“. Dagegen will der GCM etwas unternehmen.
„Warum so ein Pakt?“
Zu den 23 formulierten Zielen des Pakts gehört auch, unter Ziel 17, die „Gestaltung der Wahrnehmung von Migration“. In diesem Paragraphen, der Warnmechanismen bei „Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus“ und allen anderen „mannigfaltigen und sich überschneidenden Formen der Diskriminierung“ sowie eine Kontrolle der Medien vorsieht, werden die Rechte der Zuwanderer fokussiert; die der Einheimischen bleiben, wie auch sonst im GCM, außen vor.
Das ist auch insofern problematisch, als Xenophobie, Intoleranz und Diskriminierung keine Einbahnstraßen sind, umso mehr, als laut GCM jede Einwanderergruppe auch in der Fremde ihre Kultur leben können sollte. Diskrepanzen, die sich daraus zum Wertekanon der Aufnahmegesellschaft ergeben, werden nicht thematisiert.
Jörg Zajonc, Chef von „RTL West“, brachte die Problematik des Migrationspakts in einem Kommentar am 31. Oktober auf den Punkt: „Der UN-Migrationspakt – viel Wunsch, wenig Wirklichkeit, sehr verschachtelt geschrieben, schlecht zu lesen und noch schlechter zu verstehen, bis auf eine Behauptung: Migration ist gut, immer und ohne Einschränkung. Begründung: Fehlanzeige.“
Für Zajnoc stellt sich die Frage, wie ein faktenorientierter Diskurs geführt werden soll, „wenn das Ergebnis schon vorher feststeht“. Die Antwort auf folgende Frage finde sich im CCM nicht: „Wenn Migration so gut ist, warum braucht es dann eine gelenkte Information und warum überhaupt so einen Pakt?“
Einzig um Menschenrechte für Migranten kann es nicht gehen. Dafür wäre kein besonderes Abkommen nötig, nehmen doch die bestehenden Menschenrechtserklärungen und -pakte (wie auch die im Grundgesetz verbürgten Grundrechte, soweit sie nicht Bürgerrechte sind) Migranten nicht aus. Der GCM verleiht ihnen demnach einen neuen, gehobeneren Status.
Amelie Winther
Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 9. November 2018
MAASSENS AKT DER
SELBSTBESTIMMUNG
Auf einer Pressekonferenz verkündete Innenminister Seehofer am 5. November die Versetzung des Verfassungsschutzpräsidenten in den einstweiligen Ruhestand. „Entscheidender Anlass“ seien „inakzeptable Formulierungen“ in der Abschiedsrede Maaßens. Der fand sich nicht mit einer Rolle als bloßes Objekt politischer Winkelzüge ab, die auch mit der Fürsorgepflicht des Dienstherrn für den Beamten schlecht vereinbar waren.
FRAGEN NACH FREIBURG
Die schlimmen Folgen der Nichtvollstreckung eines Haftbefehls trafen eine 18-Jährige in Freiburg. Auf die Gruppenvergewaltigung der jungen Studentin hat die Politik größtenteils hilflos reagiert. Einmal mehr zeigt der Fall die Notwendigkeit, solch schreckliche Verbrechen endlich frei von Scheuklappen aufzuarbeiten.
WER BEERBT MERKEL?
Mit ihrer Ankündigung, auf dem CDU-Parteitag im Dezember nicht mehr für den Vorsitz zu kandidieren, machte Merkel den Weg frei für ihre Nachfolge. Ob der Wechsel an der Parteispitze auch zu einem Politikwechsel führen wird, ist offen. Entscheidend ist, welcher der Kandidaten das Rennen machen wird.
AUCH EIN STÜCK FREIHEIT
Die Europäische Union, die Europäische Zentralbank, führende Politiker sowie Repräsentanten von Handel und Banken unternehmen immer wieder Vorstöße, die auf eine Abschaffung des Bargelds zielen. Es wurden auf dem Weg dorthin auch schon Fakten geschaffen. Was hinter den Bemühungen steckt.
STEIGENDE GEFAHR?
US-Präsident Donald Trump will den Vertrag über nukleare Mittelstreckenraketen, 1987 zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion geschlossen, aufkündigen. Ein riskantes Unterfangen, das die Gefahr von Atomkriegen wieder ein Stück erhöht.
MEINUNGSAUSTAUSCH
Die Reaktionen auf eine nicht alltägliche Veranstaltung der AfD halten an: Die Chefs von ARD-„tagesschau“ und ZDF-„heute-Journal“, Kai Gniffke und Peter Frey, hatten in Dresden auf Einladung des dortigen AfD-Kreisverbands mit Vertretern der Partei über „Medien und Meinung“ diskutiert.
DEBATTE UM DIE „SIMPSONS“
Zuschauerliebling Apu Nahasapeemapetilon wird aus der erfolgreichen Zeichentrickserie gestrichen. Die Figur – indischstämmiger Inhaber des legendären Supermarkts namens „Kwik-E-Mart“ – bediene Stereotype, argumentieren Vertreter der politischen Korrektheit. Letztlich aber basieren alle „Simpsons“-Charaktere auf Klischees.