Nr. 45 vom 2.11.2018

Nr. 45 vom 2.11.2018

Standpunkt

Sturz in die richtige Richtung

Erst als die Lage unhaltbar geworden war, gab Merkel ein Stück Macht ab. Warum meint sie, sich ihrer eigenen Partei nicht mehr, den Deutschen aber weiterhin zumuten zu können?

Die mehrfach variierte Idee der Noch-CDU-Vorsitzenden, „verloren gegangenes“ Vertrauen zurückzugewinnen, scheiterte an zwei Umständen: Erstens an der Schwere dessen, was sie dem deutschen Volk, auf das sie ihren Amtseid geschworen hat, in den letzten drei Jahren antat und wodurch sie ihre mangelnde emotionale Bindung an dieses Volk mehr noch verriet als durch ihre Sprache (in der die Deutschen unter „diejenigen, die schon länger hier leben“, geführt werden). Zweitens an der Hartnäckigkeit, mit der sie eine Korrektur der Entscheidung vom September 2015 ablehnte, aufgrund derer jeder, der „Interesse an Schutz oder Asyl in der Bundesrepublik“ zeigt, von der Bundespolizei über die Grenze gelassen wird – auch wenn er über sichere Drittstaaten anreist und also längst nicht mehr in Gefahr ist.

Die Hütte brennt

Dass dieser Zustand anhält, wurde durch den Versuch von Bundesinnenminister Seehofer, ihn zu beenden, überdeutlich. Merkel hat im Juni die Chance verstreichen lassen, Seehofers Initiative aufzugreifen, und sich stattdessen in diesem – für sie offenbar ganz wesentlichen – Punkt auf ein wochenlanges Tauziehen eingelassen, an dessen Ende sie sich zwar durchsetzte, aber dem Letzten in Deutschland klar sein musste, was an der Grenze abläuft.

Man darf sich den Verlust von 11,3 Prozent, fast eines Drittels des hessischen CDU-Ergebnisses von 2013, nicht so leicht vorstellen, wie es sich am Fernseher anfühlt. Wenn Landtagsabgeordnete und ihre Mitarbeiter gehen müssen, die Mittelzuweisungen an Partei, Fraktion und Stiftung zusammenschmelzen, brennt sozusagen die Hütte. Die Betroffenen halten mit ihrer Meinung nicht mehr hinterm Berg und schonen auch nicht mehr diejenigen, die sie insgeheim schon lange für die Misere verantwortlich machen. Das ist der Hintergrund, vor dem Merkel am Tag nach der Hessen-Wahl bekanntgab, am CDU-Vorsitz nicht festhalten zu wollen.

Merz, Spahn oder …

Kommt nun die Stunde ihres Langzeitwidersachers Friedrich Merz? In einem Interview im Juli nannte es Merz gegenüber der „WAZ“ zwar „richtig“, dass die EU „in der Flüchtlingspolitik eine restriktivere Haltung einnehmen will als vor zwei, drei Jahren“, doch bei dem „Dissens, der in der Bundesregierung bei diesem Thema offenbar immer noch besteht“, wich er einer Stellungnahme aus, bemängelte vielmehr den „Stil der Auseinandersetzung“. Auch wenn es an Merz, dem Vorsitzenden der „Atlantik-Brücke“, schon in der Vergangenheit einiges zu beanstanden gab, ist ihm aber kaum zuzutrauen, dass er den Auflösungskurs Merkel’schen Ausmaßes fortsetzen würde. Einen gewissen Kurswechsel würde wohl auch Jens Spahn bedeuten.

… „AKK“, Laschet, Günther

Sollte auf dem CDU-Parteitag am 7. und 8. Dezember in Hamburg hingegen Annegret Kramp-Karrenbauer, Armin Laschet oder Daniel Günther an die Spitze der CDU gewählt werden, hätte die Partei ihre Chance auf Erneuerung vertan. Merkel würde wohl nur zu gerne durch einen der Genannten weiter die Kontrolle ausüben. Ob die Installation eines Vertrauten gelingt, ist aber schon deshalb fraglich, weil die Disziplinierungsmittel gegenüber Parteitagsdelegierten schwächer als jene gegenüber Fraktionsmitgliedern sind. Und selbst in der Fraktion war es nicht gelungen, noch einmal Volker Kauder als Chef durchzusetzen

Ein inhaltliches Schwergewicht wie der Völkerrechtsprofessor Matthias Herdegen, der sich vor Merkels Rückzug zur Kandidatur um den Vorsitz bereit erklärt hatte, gerät jetzt, da sich höhere Parteiränge bewerben, unverdient in den Hintergrund. Dabei wäre er, wie seine innerparteilich unter Beweis gestellte Courage und sein klarer Standpunkt zum Grenzschutz ausweisen, eigentlich die beste Wahl.

Reicht die Machtbasis noch?

Die Frage ist, wie lange Merkel im Kanzleramt durchhalten kann, wenn ihre Partei bereits auf andere Stimmen hört. Es verbietet sich, eine ganz am Wohl des deutschen Volkes orientierte Persönlichkeit wie Ludwig Erhard mit Merkel zu vergleichen. Aber selbst er musste – trotz seiner Verdienste um Deutschland und den deutschen Wiederaufstieg, trotz seiner Popularität – erfahren, was es bedeutet, als Kanzler in der CDU keine ausreichende Machtbasis zu haben. Erhard hatte ein Jahr vor seinem Rücktritt die Union als Spitzenkandidat zum damals zweitbesten Ergebnis ihrer Geschichte, 47,6 Prozent, geführt. Und die Einwände, die dann, 1966, gegen ihn vorgebracht wurden, waren von Anfang an alles andere als stichhaltig. Merkel hingegen hat mit ihrer Migrationspolitik eine starke, zweistellige Oppositionspartei in den Sattel gehoben und an den Folgen dieser Politik wird Deutschland noch lange laborieren. Vor diesem Hintergrund erscheint es fast ausgeschlossen, dass sie noch bis 2021 Regierungschefin bleibt, wie sie jetzt in den Raum stellte.

„Frau Merkel verzichtet auf das falsche Amt“, sagt der FDP-Vorsitzende Christian Lindner. Das ist schon wahr. Aber es ist ein Schritt, nein, ein Sturz in die richtige Richtung.

Ulrich Wenck

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 2. November 2018

FREIBURG UND ROM

Nach der Vergewaltigung einer 18-Jährigen in Freiburg wurden acht Männer, sieben mit syrischer und einer mit deutscher Staatsbürgerschaft, festgenommen. Die Polizei schließt weitere Täter nicht aus. In Rom sitzen vier afrikanische Migranten in Haft; sie sollen die 16-jährige Desirée Mariottini unter Drogen gesetzt, vergewaltigt und ihren Tod verursacht haben. Die politischen Reaktionen könnten unterschiedlicher nicht sein.

EINSCHNEIDENDER WANDEL

Ist Brasilien auf dem Weg zu einem autoritären Staat? Diesen Eindruck gewinnt, wer Medienberichte zum Ausgang der Stichwahl um das Präsidentenamt verfolgt. Die Anhänger von Jair Bolsonaro, dem eindeutigen Wahlsieger, aber meinen: „Die Demokratie hat gesiegt.“

VOM TV-STUDIO INS MINISTERIUM?

Alexander Hold, der Öffentlichkeit als oft gestrenger, manchmal auch milder Richter einer nach ihm benannten Fernsehserie bekannt, ist für die Freien Wähler in Bayern in den Landtag eingezogen. Jetzt ist der Jurist sogar als neuer Justizminister im Freistaat im Gespräch.

POSTKOLONIALE ARROGANZ

Der Afrikabeauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke, steht seit Wochen wegen eines Interviews, das eigentlich unaufgeregt und vernünftig war, unter Beschuss. Aber sind es nicht seine Kritiker, die postkoloniale Arroganz an den Tag legen, soweit sie Afrika ein Anderssein absprechen und es zum ewigen Krisenkontinent stilisieren?

GRUNDGESETZWIDRIGE PRAKTIKEN?

Der Deutsche Tierschutzbund weist immer wieder darauf hin, dass das Leben der meisten Tiere in der intensiven Landwirtschaft von der Haltung in einer natürlichen Umgebung weit entfernt ist. Jetzt steht die Schweinemast auf dem Prüfstand.

8.700 GLYPHOSAT-KLAGEN
IM ANROLLEN

Wer den Hals nicht voll kriegt, kann ersticken. Diese Weisheit kommt einem unwillkürlich in den Sinn, wenn man an die Übernahme des US-Konzerns Monsanto durch einen anderen Chemieriesen, nämlich die Bayer AG mit Sitz in Leverkusen, denkt.

ÜBERSCHIESSENDE „COURAGE“

Das Landgericht Bamberg hat entschieden: Facebook-Beiträge, die auf die „Gemeinsame Erklärung 2018“ verweisen, dürfen nicht als „Hassrede“ gelöscht werden. Facebook hatte eine Aufforderung, die Stellungnahme verschiedener Publizisten und Intellektueller zu unterstützen, entfernt. Das war nicht rechtens.

DIE FORM FIEL, DIE EINHEIT NICHT

Vor 100 Jahren wurde die Staatsform des Bismarck-Reiches gestürzt, aber die Staatseinheit und damit der Staat des deutschen Volkes blieben erhalten. Das war nicht zuletzt das Verdienst der damaligen SPD. Heute erleben wir in gewisser Weise das Gegenteil: Die Staatsform bleibt äußerlich angetastet, aber der Inhalt, die Substanz, wird verändert. Woran der 9. November 1918 gemahnt.

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