Nr. 46 vom 10.11.2017

Nr. 46 vom 10.11.2017

Standpunkt

Infamer Anschlag – durch Anwesenheit?

Die wiedergewählte Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Claudia Roth, gab dem „Spiegel“ ein Interview, das einmal mehr ihre Bereitschaft in Frage stellt, in einem vielfältiger gewordenen Parlament der präsidialen Verpflichtung zu entsprechen, im Rahmen des Sitzungsvorstands die Verhandlungen „gerecht und unparteiisch“ zu leiten, wie es die Geschäftsordnung gebietet.

In dem Gespräch ging es um die Frage, wie Roth mit der AfD im Bundestag umgehen will. Sie möchte die Geschäftsordnung „konsequent anwenden“ und setzt auf „eine hohe Sensibilität, vom Präsidium, aber auch von den Abgeordneten aller Parteien“. Auf die Anschlussfrage „Was erwarten Sie von denen?“ antwortete Roth dem „Spiegel“: „Die Kolleginnen und Kollegen werden häufiger im Plenum sein müssen. Die AfD wird versuchen, die anderen Fraktionen und damit den Bundestag lächerlich zu machen, indem sie Bilder verbreitet, auf denen ihre Reihen gut gefüllt, die der anderen Fraktionen aber fast leer sind. Und meine Kollegen werden besser zuhören müssen, konzentrierter sein, dazwischengehen.“

Aus dieser Perspektive plant die AfD im Bundestag also einen infamen Anschlag auf das Ansehen des Parlaments – durch Anwesenheit. Da man einem Abgeordneten aber die Präsenz im Plenum ebenso wenig zur Last legen kann wie einem Arzt jene in der Sprechstunde, einem Richter sein Erscheinen in der Verhandlung oder einem Arbeiter das auf der Baustelle, bekundete Roth damit letztlich nur, Abgeordnete der etablierten Fraktionen seien oft kaum anwesend, hörten nicht genau zu und konzentrierten sich zu wenig. Die Gefahr, das Parlament auf diese Weise in seinem Ansehen zu beschädigen, geht – logisch betrachtet – doch von jenen aus, die sich so verhalten! Diese Gefahr tritt offensichtlich nicht erst jetzt auf und sie wird sogar deutlich geringer, wenn sich eine neue Fraktion diesen Unsitten nicht anschließt, sondern durch Anwesenheit glänzt und so – direkt und indirekt – zur Abstellung schlechter Gewohnheiten beiträgt. Aber auf die Idee, diese belebenden Wirkungen der AfD-Präsenz offen einzugestehen und sie so positiv zu bewerten, wie sie sind, kommt die Bundestagsvizepräsidentin nicht. Stattdessen wird selbst daraus noch ein Vorwurf an die Adresse der unliebsamen Opposition.

Gegenüber der „Zeit“ hatte Roth schon am 27. September auf die Frage „Wie sollte man im Bundestag mit der AfD umgehen?“ erklärt, es werde „jetzt sehr darauf ankommen, volksverhetzende Äußerungen nicht zuzulassen und zu ahnden“. Dabei ist bekanntlich selbst bei den pointiertesten Äußerungen von Björn Höcke, der dem Bundestag nicht angehört, von Volksverhetzung nicht die Rede. Woher also die Annahme, man werde künftig vonseiten der AfD-Fraktion in einem Umfang mit solchen Äußerungen konfrontiert sein, dass es „sehr darauf ankommen“ wird, sie nicht zuzulassen und zu ahnden?

Ausschluss mit Risiken

In dem „Zeit“-Interview hatte Roth auch bereits die Marschlinie vorgezeichnet, die nun angewendet wird, um der AfD-Fraktion das ihr zustehende Vizepräsidentenamt vorzuenthalten: „Grundsätzlich steht den Fraktionen auch im Präsidium ein Platz zu. Allerdings stimmt der Bundestag darüber in geheimer Wahl ab. Es gibt keinen Automatismus. Das halte ich für eine gute Lösung.“ Auf diese „Lösung“ setzt man jetzt weiterhin gegenüber dem von der AfD nominierten, bereits in drei Wahlgängen von den Mehrheitsfraktionen abgelehnten Kandidaten Albrecht Glaser.

Tatsächlich bestimmt die Geschäftsordnung des Bundestages ohne Ausnahme: „Jede Fraktion des Deutschen Bundestages ist durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten.“ Dahinter steht der verfassungsrechtliche Anspruch der Fraktionen auf Gleichbehandlung und auf proportionale Beteiligung an der parlamentarischen Willensbildung.

Dass die Wahl eines von der AfD vorgeschlagenen Bewerbers zum Vizepräsidenten nicht aus beliebigen politischen Gründen versagt werden kann, sondern nur, wenn dies verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, insbesondere weil durch seine Person die Funktionsfähigkeit des Präsidiums gefährdet wäre – das verschwieg Roth tunlich. Jedenfalls wenn man an den im Wahlkampf mit einer umstrittenen islamkritischen Äußerung hervorgetretenen früheren CDU-Politiker Albrecht Glaser keinen schärferen Maßstab anlegt als an andere Mitglieder des Präsidiums (Schäuble zum Beispiel war als Bundesinnenminister der Hauptbefürworter der Ermächtigung zum Abschuss entführter Passagierflugzeuge, selbst noch nachdem das Bundesverfassungsgericht 2006 die entsprechende Bestimmung im Luftsicherheitsgesetz für mit dem Grundrecht auf Leben der Besatzung und der Passagiere unvereinbar erklärt hatte!) ist die Tatsache, dass die AfD als drittstärkste Fraktion nicht im Bundestagspräsidium vertreten ist, ein verfassungswidriger Zustand, der umso schwerer wiegt, als die AfD-Fraktion dadurch auch von den Informationen abgeschnitten ist, die den Mitgliedern des Präsidiums zur Verfügung stehen.

Anstatt die Verfassungsrechtslage zu erläutern, wonach der Vorschlag jeder Fraktion grundsätzlich akzeptiert werden muss und die Voraussetzungen für eine Ausnahme sehr hoch sind, berief freilich nicht nur Claudia Roth sich öffentlich auf die geheime Wahl. Dabei hat die Rechtsprechung schon im Zusammenhang mit der Besetzung von Ausschüssen entschieden, dass es missbräuchlich ist, wenn die Mehrheit nur ihr politisch genehme Abgeordnete der Minderheit in zu besetzende Gremien wählt. Aber die Mehrheitsfraktionen nehmen offensichtlich die Möglichkeit in Kauf, dass der Bundestag von der AfD-Fraktion vor dem Bundesverfassungsgericht verklagt wird und in Karlsruhe unterliegt. Nicht die Anwesenheit der AfD-Abgeordneten im Plenum, sondern der Ausschluss der neuen Fraktion aus dem Präsidium ist es demnach, der das Ansehen des Bundestages – und darüber hinaus die demokratische Legitimation seiner Beschlüsse – gefährdet.

Ulrich Wenck

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