Nr. 47 vom 17.11.2017

Nr. 47 vom 17.11.2017

Standpunkt

Merkels Politik zerspaltete auch den
Koalitionstraum

Vor Merkels 2015 getroffener und nach wie vor umgesetzter Entscheidung, trotz der Wiederaufnahme von „Grenzkontrollen“ keinem über sichere Drittstaaten an die deutsche Grenze reisenden Asylmigranten die Einreise ins Bundesgebiet zu verweigern (wie es das Asylgesetz und die Dublin-III-Verordnung als Regelfall vorsehen), brauchte man über eine „Jamaika“-Koalition im Bund nicht einmal nachzudenken. Inhaltlich wäre sie aber wohl zu bewältigen gewesen. Dann aber hat Merkel das ganze Volk gespalten – und mit ihm auch die politischen Eliten. Das Scheitern der Sondierungsverhandlungen ist das Resultat dieser Spaltung.

Das allein sollte für die maßgeblichen Kräfte in der Union ausreichen, ihren Rückzug zu verlangen. Wenn nicht um Deutschlands willen, dann aus Selbsterhaltungstrieb. Wenn es nämlich im Frühjahr 2018 zu Neuwahlen kommt, wonach es derzeit aussieht, dann dürfte es CDU und CSU äußerst schwerfallen, sowohl innerhalb der Parteien als auch gegenüber der Öffentlichkeit eine erneute Kanzlerkandidatur Merkels zu vermitteln.

Was „die willigste Medienmaschine
nicht überblenden“ kann

Die Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel bedauert den Sondierungsabbruch fraglos auch deshalb, weil damit nach Ansicht vieler Beobachter ihr politisches Schicksal verknüpft ist. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hatte der frühere Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Streeck, bekannt als Mann vernünftig-kluger Worte, bereits am 16. November 2017 einen Abgesang auf die Kanzlerin veröffentlicht, den er treffend wie folgt einleitete: „Die Ära Merkel geht zu Ende, und das ist auch gut so. Allmählich erwachen die deutsche Politik und ihre Öffentlichkeit aus ihrer postdemokratischen Narkose. Merkels basale Herrschaftstechnik bestand bekanntlich darin, statt Wähler für eigene Ziele zu mobilisieren, den Wählern anderer Parteien die Gründe zu nehmen, zur Wahl zu gehen – durch so unauffällig wie möglich gehaltene Bekenntnisse zum eigenen Programm bei angedeutetem Verständnis für die Programme der Konkurrenz.“

Mit ihrer „Methode der asymmetrischen Demobilisierung“ habe sich Merkel „eine für demokratische Verhältnisse unvorstellbare taktische Bewegungsfreiheit“ verschafft, „die sie für immer neue Kehrtwendungen in Richtung der linken Mitte nutzte, um ihr Repertoire künftiger Koalitionsmöglichkeiten auszubauen“, so Streeck. Damit habe sie Deutschland „enorme Kosten“ hinterlassen. Schließlich resümiert der emeritierte Hochschullehrer: „Merkels germanozentrische ‚Flüchtlingspolitik‘, ohne Vorwarnung der Partnerländer überfallartig ins Werk gesetzt, hat den Ausgang des Brexit-Referendums mitverursacht und die Ablehnungsfront der Ostländer konsolidiert und durch Österreich verstärkt. [… ] Die als Folge ins Haus stehenden Krisen wird selbst die willigste Medienmaschine nicht mehr überblenden können.“

Alle Hebel versagten

Diese Medienmaschine musste schon jetzt ihre Grenzen erfahren. Bei den Sondierungen ist nämlich nicht nur Merkels Methode der „asymmetrischen Demobilisierung“ gescheitert, sondern auch der von maßgeblichen Massenmedien zu ihren Gunsten ausgeübte Druck in Richtung auf „Jamaika“. Und wenn Merkel darauf spekuliert hatte, dass alle Seiten so versessen auf Ämter und Posten sind, wie sie mit Inbrunst an der Macht hängt, so ist auch dieses Kalkül nicht aufgegangen. Christian Lindner mag sich freilich auch daran erinnert haben, wie seine Partei nach dem nicht gehaltenen Wahlversprechen „Mehr Netto vom Brutto“ von 14,6 Prozent 2009 auf 4,8 Prozent 2013 einbrach.

Jürgen Schwaiger

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 17. November 2017

UNION AUF TALFAHRT

Keine zwei Monate nach der Bundestagswahl stürzte Merkels Union in Umfragen gnadenlos ab. Dass CDU/CSU im Rahmen des „Jamaika“-Versuchs eine noch weitergehende „Öffnung“ Deutschlands in Aussicht stellten, dürfte die Talfahrt beschleunigt haben.

SCHROTTBUS-DENKMAL IN BERLIN

Die Schrottbusse, die vor einem dreiviertel Jahr als „Antikriegsskulptur“ in Dresden für Aufruhr sorgten, stehen gerade am Brandenburger Tor. Ausgestellt wird das „Monument“ im Rahmen des Herbstsalons des Maxim-Gorki-Theater, der unter dem Motto „Desintegriert euch“ für Auflösung und Diversität eintreten will, sich in seiner politischen Agenda aber erstaunlich homogen ausnimmt.

OLIGARCHEN UNTER SICH?

Unter den Einzelpersonen, die in den „Paradise Papers“ zu Praktiken der staatenübergreifenden Steuervermeidung auftauchen, befinden sich der ukrainische Präsident Petro Poroschenko ebenso wie US-Außenminister Rex Tillerson oder George Soros, Gründer der Open Society Foundations. Bernie Sanders, der in der Vorwahl für die Präsidentschaftswahl 2016 Hillary Clinton unterlegen war, spricht von einer „schnellen Entwicklung hin zu einer internationalen Oligarchie“.

AM OFFENEN HERZEN
DER DEMOKRATIE

Allzu oft hat sich die Regierung Anfragen von Abgeordneten entzogen. Damit dürfte jetzt Schluss sein, nachdem das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einer wegweisenden Entscheidung das Fragerecht des Bundestags gestärkt hat.

CHINAS PLAN

Bis 2035 will das Reich der Mitte eine den USA ebenbürtige Großmacht sein und bis 2050 auch militärisch den Globus bestimmen. Das hat Staatspräsident Xi Jinping unlängst auf dem Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas in einer Grundsatzrede verkündet.

WEITER SO?

Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen will ihr Amt auch in der nächsten Legislaturperiode behalten. Dabei stand in der Geschichte der Bundeswehr noch kein Inhaber der Befehlsgewalt so sehr auf Kriegsfuß mit der Truppe wie die ehrgeizige CDU-Politikerin.

ALTERNATIVE ZU PLASTIK

Synthetische Kunststoffe belasten die Umwelt enorm. Oft nur kurz im Gebrauch, dauert es etwa im Falle von Plastiktüten mehrere Jahrhunderte, bis sie vollständig abgebaut sind. Doch die Entwicklung von pflanzlich basierten Polymeren schreitet voran.

POTSDAMS MITTE

Jahrzehntelangen Widerständen zum Trotz und ungeachtet der Randalierer, die Ende Oktober den Festgottesdienst störten, kommt es ein halbes Jahrhundert nach der von Walter Ulbricht veranlassten Sprengung der Potsdamer Garnisonkirche endlich zum Wiederaufbau des historischen Turms des Gotteshauses.

Nach oben