Nr. 45 vom 4.11.2016

Nr. 45 vom 4.11.2016

Standpunkt

Washingtoner Denkfabriken

In Washington weint das „außenpolitische Establishment“ dem scheidenden Präsidenten keine Träne nach. Das schrieb kürzlich die „Washington Post“, die größte Tageszeitung der US-Hauptstadt. Obama habe sich immer wieder den Forderungen der „Falken“ zumindest teilweise entzogen. Die außenpolitische Elite, die gleichermaßen aus Demokraten wie Republikanern bestehe, habe aber die Grundlagen für eine „aggressivere amerikanische Außenpolitik“ geschaffen, „durch eine Flut von Berichten aus der Feder von Funktionsträgern, die jeweils eine größere Rolle in einer möglichen Clinton-Regierung spielen dürften“.

Obwohl das Land hinsichtlich des Duells Clinton gegen Trump so gespalten wie nie sei, herrsche bei den außenpolitischen Tonangebern eine „bemerkenswerte Einigkeit“. „Es gibt die weitverbreitete Auffassung, dass Passivität und die Anerkennung der Grenzen amerikanischer Macht ihren Preis haben. Also geht die Tendenz zu mehr Interventionen“, erklärt Philip Gordon, bis 2015 einer von Obamas Hauptberatern in auswärtigen Angelegenheiten. Kein Wunder also, dass Trumps isolationistische Forderungen dort die Alarmglocken schrillen lassen.

Martin Indyk von der Denkfabrik „Brookings Institution“, vormals für die Präsidenten Obama, George W. Bush und Clinton unter anderem als Botschafter in Israel tätig, findet, dass die „amerikanisch geführte internationale Ordnung in Gefahr“ sei. Wie man sie wieder erneuere, will der Brookings-Bericht im Dezember darstellen. Die „Washington Post“ schreibt, die Vorschläge der einflussreichen Denkfabriken zielten allesamt auf „eine aggressivere amerikanische Tätigkeit, um den Iran einzuschränken, das Chaos im Nahen Osten und Russland in Europa unter Kontrolle zu bringen“.

Dennis Kucinich findet unterdessen für das „außenpolitische Establishment“ klare Worte. Als ehemaliges Mitglied des Repräsentantenhauses habe er sich 16 Jahre lang die Kriegstreiberei einschlägiger Experten, die „jeder Stichhaltigkeit, Realität und Wahrheit entbehrt“, anhören müssen, schrieb er soeben in der Zeitschrift „The Nation“. Pseudointellektuelle schließen sich nach Meinung des früheren Bürgermeisters von Cleveland und Anwärters auf die US-Präsidentschaftskandidatur der Demokraten zu „Denkfabriken“ zusammen, „erhalten Geld von interessierten Kreisen, einschließlich ausländischer Regierungen, um solche Berichte zu erstellen, die eine dem wirklichen Interesse des amerikanischen Volkes widersprechende Politik vorantreiben“. Namentlich nennt er die „Brooking Institution“, die großzügige finanzielle Unterstützung beispielsweise aus Katar erhalte und eine „Schlüsselrolle“ in der Kampagne gegen Assad einnehme. Tatsächlich hat der Vier-Sterne-General John Allen als „Senior Fellow“ des „Think Tanks“ gemeinsam mit Charles Lister vom „Middle East Institute“ (das Gelder aus Saudi-Arabien erhält) unlängst in einem Beitrag in der „Washington Post“ darauf gedrängt, endlich Syrien anzugreifen.

Als zweites führt Kucinich das „Center of American Progress“ (CAP) an, das fordert, „Syrien zu bombardieren, und schätzt, dass Amerikas aktuelle militärische Abenteuer bis 2025 erledigt sind“. Das CAP werde unter anderem vom Rüstungskonzern Lockheed Martin und von Boeing finanziert, „die diese Bomber herstellen, mit denen das CAP ein Höllenfeuer über Syrien entfachen will“.

Dennis Kucinichs Fazit ist ernüchternd: „In der Endphase des US-Präsidentschaftswahlkampfes würgen die Ideologen in Washington wieder genau den parteiübergreifenden Konsens hervor, der Amerika seit dem 11. September im Krieg hält und die Welt zu einem deutlich gefährlicheren Ort gemacht hat. Die Denkfabriken in der Hauptstadt gewähren dem politischen Establishment Deckung, ein politisches Sicherheitsnetz, in dem ein Gerüst aus fiktiven Analysen die moralische Begründung für Interventionen liefert.“ Es sei nun an der Zeit für eine aktive Friedensbewegung. „Wir dürfen Krieg nicht als unausweichlich akzeptieren, und diejenigen, die uns in diese Richtung führen, sei es im Kongress oder im Weißen Haus, müssen eine ernsthafte Opposition zu sehen bekommen.“

AW

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 4. November 2016

TRADITION BRANDSTIFTUNG?

Laut der Präfektur des französischen Départements Pas-de-Calais sind die Feuer, die Migranten beim Verlassen des „Dschungels von Calais“ legten, eine „Tradition, namentlich von bestimmten Gemeinschaften, die ihre Behausung in Brand setzen, wenn sie sie aufgeben“.

EINSAME MERKEL

Die Bundeskanzlerin muss sich zunehmend mit Kritik aus Wirtschaftsverbänden beschäftigen. Mario Ohoven, Präsident des „Bundesverbands mittelständische Wirtschaft“, erklärte kürzlich beispielsweise, dass viele Unternehmen der Union inzwischen Wirtschaftskompetenz absprächen.

DIE LEHREN AUS CETA

Es war alles andere als eine Blamage für Europa, dass der auf den 27. Oktober terminierte EU-Kanada-Gipfel zur Unterzeichnung des CETA-Freihandelsabkommens wegen des Widerstandes aus Belgien verschoben wurde. Warum agiert die EU so bürgerfern?

KÖLN IST NICHT VORBEI

Die Aufarbeitung der Kölner Silvesternacht verdeutlicht nicht nur die unrühmliche Rolle etlicher Medien, sondern scheint Alice Schwarzers Thesen zu bestätigen, wonach Köln nicht zufällig Ort der Übergriffe wurde: „Der Platz liegt verkehrstechnisch zentral; die Kölner Polizei und Justiz ist für Milde bekannt; und der Dom, das wichtigste Heiligtum im christlichen Abendland, steht auch da.“

WO DAS FREIE WORT GESCHÄTZT WIRD

Noch vor wenigen Jahren hätte man sich einen Buchautor wie Akif Pirinçci kaum auf einem Burschenschaftshaus vorstellen können. Mittlerweile passt er ganz gut an solch einen Ort geistig-politischer Dissidenz. Eine Buchlesung in Dresden.

RÄTSEL DER MAYA

Das Historische Museum der Pfalz in Speyer zeigt, warum es mittlerweile zu den ersten Adressen Deutschlands gehört: Aktuell beleuchtet die exzellente Ausstellung „Das Rätsel der Königsstädte“ die Maya. Wieso ging diese Hochkultur unter?

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