Nr. 44 vom 26.10.2018

Nr. 44 vom 26.10.2018

Standpunkt

Ab durch die Mitte?

Als Angela Merkel und Volker Bouffier, Ministerpräsident von Hessen sowie stellvertretender CDU-Vorsitzender, am 21. Oktober nach den Sitzungen der CDU-Spitze im Konrad-Adenauer-Haus in Berlin vor die Presse traten, prangte hinter ihnen wieder einmal das Logo: „Die Mitte.“ Da Merkel die so beschworene Mitte aber nicht mehr vertritt, könnte davon bald nur die aus der Theatersprache stammende Redensart übrigbleiben: Der kürzeste Weg, von der Bühne abzutreten, ist der durch die Mitte.

In genau einem Jahr soll Thüringen einen neuen Landtag wählen. Ob Angela Merkel dann noch die Geschicke ihrer Partei als Vorsitzende und die der deutschen Politik als Regierungschefin führt, ist mehr als fraglich. Nicht wenige thüringische Christdemokraten dürften sich sogar wünschen, dass Merkel 2019 nicht mehr als Kopf der Partei Schützenhilfe im Wahlkampf leistet, hat sie doch beim Landesparteitag am 20. Oktober im Eichsfeld mit einer, wie gewohnt, rhetorisch dürftigen und inhaltlich problematischen Rede aufgewartet.

Wer ist das Volk?

„Jeder, der in Deutschland lebt und dauerhaft hier lebt und Anspruch hat, hier zu leben, ist ein Teil des Volkes“, variierte sie in Leinefelde-Worbis eine ihrer früheren Aussagen und setzte sich erneut über die Grundlagen des demokratischen Staates hinweg. Dessen Kern ist schließlich die Volkssouveränität, die in Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes wie folgt niedergelegt ist: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

Das Bundesverfassungsgericht bekräftigte am 31. März 2016 – Az. 2 BvR 1576/13 – erneut seine ständige Rechtsprechung: „,Volk‘ im Sinne von Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG sind dabei wie im Rahmen von Art. 20 Abs. 2 GG nur die (im jeweiligen Wahlgebiet ansässigen) deutschen Staatsangehörigen und die ihnen gleichgestellten Personen im Sinne von Art. 116 Abs. 1 GG.“ (Bei diesen gleichgestellten Personen handelt es sich um Flüchtlinge oder Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit.)

Für eine von der Verfassung abweichende Definition des Volkes durch die Regierungschefin ist im Rechtsstaat schlicht kein Raum.

Fehlende Einsicht, fehlende Lösungen

Wenig geeignet, „die Mitte“ und das Vertrauen der Wähler allgemein zurückzugewinnen, ist ferner Merkels penetrante Weigerung, Fehler einzugestehen, zu analysieren und zu korrigieren. „Wenn es damals einen Fehler gegeben hat, dann war es nicht der Fehler, die Menschen aufzunehmen, sondern dann war es der Fehler, nicht hinzuschauen, wie es da ging, wo die Menschen herkamen“, sagte sie über das Krisenanfangsjahr 2015. Die Lösung sieht sie nicht etwa in der Rücknahme ihrer Entscheidung zur pauschalen Einreisegestattung auch ohne Grenzübertrittspapiere, sondern in Abkommen mit afrikanischen Staaten und der Anhebung des weltweiten Lebensstandards.
Von Diskussionen zur Migrationspolitik hält Merkel offenbar wenig. Wörtlich sagte sie: „Wenn wir uns für den Rest des Jahrzehnts jetzt damit beschäftigen wollen, was 2015 vielleicht so oder so gelaufen wäre, und damit die ganze Zeit verplempern und nicht mehr in die Zukunft schauen können, dann werden wir den Charakter als Volkspartei verlieren.“

Nicht nur den Rest des Jahrzehnts, sondern lange darüber hinaus wird sich Deutschland noch mit der fatalen Weichenstellung des Spätsommers 2015 auseinanderzusetzen haben, die die Schriftstellerin Charlotte Link, nicht nur wegen ihres eigenen Engagements in der Flüchtlingshilfe einer „rechtspopulistischen“ Einstellung unverdächtig, am 18. Oktober in einer Talkshow so beschrieb: „Wir haben damals einem großartigen Kontrollverlust zuschauen müssen. Man hatte den Eindruck, die Regierung stößt etwas an, dann läuft es aus dem Ruder und sie verliert die Kontrolle über die Situation. Das finde ich erschreckend.“

Auch das weitere Krisenmanagement der Kanzlerin fand die Bestsellerautorin „nicht sehr überzeugend“, genauso wie die öffentliche Kommunikation. Link weiter: „Stattdessen stellt sie sich ins Fernsehen und sagt: ‚Ich weiß auch nicht, wie viele noch kommen. Man kann das auch überhaupt nicht kontrollieren, Grenzen kann man nicht schützen und jetzt müssen wir eben damit leben.’“ Für die 55-Jährige liegt dort „ein Kernproblem der Parteien, die in irgendeiner Weise darin involviert waren“.

Solche Wortmeldungen zeigen, dass der Schwund der ehemaligen christdemokratischen Volkspartei nicht dadurch aufgehalten werden kann, Merkels Festhalten an ihrem migrationspolitischen Kurs mit Zukunftsfloskeln zu kaschieren und Kritik und Zweifel als Zeitverschwendung abzutun.

Entscheidung in Hessen

Den letzten Umfragen zufolge droht der Union in Hessen am Sonntag das zweite Debakel innerhalb von nur zwei Wochen. Doch so einfach wie nach der Bayernwahl wird das Kanzleramt den Schwarzen Peter hier nicht los.

Bereits vor einigen Wochen beraumte CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer eine außerplanmäßige Klausur für den 4. November an. Zudem finden am 29. Oktober reguläre Gremiensitzungen statt. Nimmt man das Treffen der Führung am 21. Oktober in Berlin hinzu, „sehen sich die führenden Christdemokraten nun einen ganzen Monat lang jede Woche. Kaum einer glaubt, dass dies nur dem Anfang Dezember zu beschließenden neuen Grundsatzprogramm geschuldet ist“, schreibt „Welt“-Journalist Robin Alexander in einem Artikel vom 15. Oktober.

Geht es also um personelle Konsequenzen nach der Hessen-Wahl? Und kann Merkel die Fäden wirklich in der Hand behalten, indem sie – je nach Wahlausgang früher oder später – einfach „AKK“ installiert? Oder steigt der Druck so weit, dass sie – wie schon bei der Wahl des Fraktionschefs – die Kontrolle über die CDU verliert? Gegenkandidaten für den Parteitag im Dezember gibt es, darunter mit dem Völkerrechtsprofessor Matthias Herdegen auch ein Schwergewicht. Und die Disziplinierungsmittel gegenüber Parteitagsdelegierten sind schwächer als jene gegenüber Fraktionsmitgliedern.

Amelie Winther

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 26. Oktober 2018

TÄUSCHUNG AUS NOTWEHR

Niemand ist verpflichtet, an der Diskriminierung der eigenen Person mitzuwirken. Und weil der Verleger Götz Kubitschek in die Ecke gedrängt werden sollte, ließ er sich etwas einfallen. Der meist unbeachtet gebliebene Grund, warum der Verlag Antaios Medien und die Leitung der Frankfurter Buchmesse narrte.

DIE DEMASKIERUNG DES
MÄRCHENPRINZEN

Saudi-Arabien hat die Tötung des Journalisten Jamal Kashoggi eingeräumt. Der erschütternde Skandal um das Verschwinden des international bekannten Kolumnisten der „Washington Post“ kompromittiert auch die westliche Politik, die sich auf Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed bin Salman als treuen Verbündeten berufen hat.

BRANDANSCHLAG UND GEISELNAHME
IN KÖLN

Manches war für die Ermittler nach den dramatischen Ereignissen des 15. Oktober zunächst noch unklar, eines aber nicht, nämlich dass Geiselnehmer Mohammad Abo R. am Kölner Hauptbahnhof möglichst viele Menschen verletzen und töten wollte. Wie Stadt und Land nur knapp einer Katastrophe entgingen.

EIN GESCHEITERTER STAAT

Zwanzig Jahre nach dem Militäreinsatz gegen Jugoslawien und gut zehn Jahre nach der Proklamation der „Republik Kosovo“ lässt sich konstatieren, dass diese nur wegen des US-Kalküls existiert, Serbien als russischen Verbündeten in Europa zu schwächen.

VOR NEUER FINANZKRISE?

Ein Gespenst geht um in der Weltwirtschaft, das Gespenst einer Wiederholung der verheerenden Finanzkrise von vor zehn Jahren. Offenbar hat man aus den verhängnisvollen Fehlern von 2008 wenig gelernt. Auch die Bundesrepublik Deutschland kann wieder in den Strudel hineingeraten.

POLITISCHES ERDBEBEN IN SÜDTIROL

Die Landtagswahlen in Südtirol brachten – erwartete, aber überschaubare – Verluste für die seit 1948 regierende Südtiroler Volkspartei sowie die prognostizierten Zugewinne für Salvinis Lega, aber auch mehrere Überraschungen, zum Beispiel das starke Abschneiden der „Liste Köllensperger“.

DER KÖNIG, DIE KUNST UND DAS VOLK

Ludwig I. von Bayern tat vor 165 Jahren etwas bis dato weltweit Einzigartiges: Er eröffnete eine der Allgemeinheit zugängliche Galerie für zeitgenössische Kunst. Dass das Fundament der „Neuen Pinakothek“ Ludwigs gesamtdeutsches Bekenntnis ist, wird deutlich, wenn man weiter in seiner Biographie zurückreist, nämlich ins Jahr 1818, nach Rom, wo deutsche Künstler ihm zu Ehren ein legendäres Fest ausrichteten.

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