Nr. 44 vom 27.10.2017
Standpunkt
Verhindern, ausgrenzen?
Sowohl beim Amt des Alterspräsidenten, das eigentlich einem AfD-Abgeordneten zugestanden hätte, als auch bei der Wahl der Bundestagsvizepräsidenten ist die drittstärkste Fraktion im neuen Bundestag leer ausgegangen. Um das zu erreichen, wurde im einen Fall an einen mehr als eineinhalb Jahrhunderte alten parlamentarischen Brauch Hand angelegt und im anderen Fall womöglich eine verfassungsrechtliche Grenze überschritten.
„Anerkannte Tradition“
Erstaunlicherweise liest man noch jetzt auf der vom Präsidenten des Deutschen Bundestages verantworteten Seite www.bundestag.de über das Amt des Alterspräsidenten: „Obwohl er nicht in sein Amt gewählt wird, sondern in seiner Eigenschaft als ältester [!] Abgeordneter zu dieser Ehre kommt, ist es anerkannte Tradition, dass der Alterspräsident die erste Rede vor dem Plenum hält.“ Tatsächlich aber wurde gerade mit dieser Tradition gebrochen. Um zu verhindern, dass ein AfD-Abgeordneter, der 77-jährige Wilhelm von Gottberg, Alterspräsident wird und die Eröffnungsrede hält, änderte eine Mehrheit der Bundestagsabgeordneten schon im April 2017 die Geschäftsordnung so, dass fortan der dienstälteste Abgeordnete „Alterspräsident“ wird.
Als in der Sitzung am 24. Oktober der AfD-Parlamentarier Bernd Baumann dann darauf hinwies, dass es seit 1848 in Deutschland Tradition ist, dass die konstituierende Sitzung vom ältesten Mitglied der Versammlung eröffnet wird, „von der Frankfurter Paulskirche bis Gustav Stresemann, von Adenauer über Brandt bis Kohl, ja bis zu den ersten Regierungen Merkel“, und es nur eine Ausnahme gab, nämlich als Hermann Göring 1933 die Regel gebrochen habe, da war die Empörung groß.
Sensibilität sollte keine Einbahnstraße sein
Auch wenn die von Baumann in diesem Zusammenhang ebenfalls erwähnte KPD-Abgeordnete Clara Zetkin dabei keine Rolle mehr spielte: Tatsächlich eröffnete Göring die Reichstagssitzung vom 21. März 1933 mit der Mitteilung, „nach einem in der Fraktionsführerbesprechung vom 15. März einstimmig gefassten Beschlusse“ solle „von Beginn dieser Wahlperiode an die Bestimmung des § 13 unserer Geschäftsordnung über die Eröffnung der ersten Sitzung durch den Alterspräsidenten außer Kraft treten“. Dieser historische Eingriff in die Geschäftsordnung ist eine im aktuellen Kontext gewiss etwas peinliche Tatsache. Aber wer meint, es gehöre sich nicht, diesen Umstand anzusprechen (weil hierin die Andeutung einer Parallele liege, was sich verbiete), der sollte dann auch widersprechen, wenn der frühere Außenminister Joseph Fischer („Grüne“) in einem „Spiegel“-Interview äußert, AfD-Funktionäre seien für ihn keine Rechtspopulisten, sondern „Nazis“. Doch gegen eine solche Schmähung, die zudem auf eine NS-Verharmlosung hinausläuft, regt sich kein vernehmlicher Widerspruch.
Wenn man im Protokoll der Reichstagssitzung vom 21. März 1933 weiterblättert, stößt man auf einen weiteren Umstand, der zu denken gibt und den der Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher 1960 so zusammenfasste: „Gemäß der vorangegangenen Vereinbarung wurde zunächst das Präsidium gewählt, in dem zwar neben zwei Nationalsozialisten ein Deutschnationaler (Graef) und ein Zentrumsabgeordneter (Esser) saßen, die SPD als noch immer zweitstärkste Partei aber entgegen dem Brauch nicht mehr vertreten war.“
Der Fall Glaser
Liest man das in diesen Tagen, fragt man sich erst recht, ob es vernünftig und sensibel war, nun ein Bundestagspräsidium zu wählen, dem neben Schäuble, CDU, zwar Hans-Peter Friedrich, CSU, Thomas Oppermann, SPD, Wolfgang Kubicki, FDP, Petra Pau, Die Linke, und Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen, angehören, in dem aber die drittstärkste Fraktion, die der AfD, nicht vertreten ist. Obwohl jeder Fraktion ein Stellvertreter des Präsidenten zusteht, wurde nämlich der Kandidat der AfD, Albrecht Glaser, als einziger nicht gewählt. Er erhielt in drei Wahlgängen zwischen 114 und 123 Stimmen bei 545 bis 550 Gegenstimmen und 24 bis 26 Enthaltungen.
Dem Juristen und früheren CDU-Politiker Glaser wird insbesondere folgende auf einer Wahlkampfveranstaltung im April 2017 – in freier Rede – gemachte Äußerung zur Last gelegt: „Wir sind nicht gegen die Religionsfreiheit. Der Islam ist eine Konstruktion, die selbst die Religionsfreiheit nicht kennt und die sie nicht respektiert. Und die da, wo sie das Sagen hat, jede Art von Religionsfreiheit im Keim erstickt. Und wer so mit einem Grundrecht umgeht, dem muss man das Grundrecht entziehen.“
Doch darf der Bundestag einen von einer Fraktion vorgeschlagenen Abgeordneten nicht aus beliebigen politischen Gründen ablehnen, sondern nur aus Gründen, die es verfassungsrechtlich rechtfertigen – etwa weil es zur Funktionsfähigkeit des zu besetzenden Gremiums erforderlich ist. Dabei müsste auch der Gleichbehandlungsgrundsatz gewahrt sein; das heißt, es dürften nicht bei Glaser strengere Maßstäbe angelegt werden als an die Äußerungen von Roth („Nie wieder Deutschland!“) und Pau, die mit 489 bzw. 456 Stimmen im ersten Wahlgang gewählt wurden.
Unabhängig von der rechtlichen Seite mehren sich die Stimmen, die das Vorgehen der etablierten Parteien im Falle Glasers, an dem die AfD festhält, nicht für klug halten und dafür eintreten, Glaser im vierten Wahlgang zu wählen, wenn der Bundestag ab dem 20. November wieder zusammentritt.
Ulrich Wenck
Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 27. Oktober 2017
KEIN GLOBALES DORF
Die Globalisierung setzt den Hobel an und hobelt alle gleich? Dass viele Menschen damit nicht einverstanden sind, haben auch die Referenden in Venetien und der Lombardei für eine größere Autonomie bestätigt.
DER „IDEALISMUS“
DES GEORGE W. BUSH
„Die Welt“ vom 21. Oktober glaubt, dass George W. Bush einen „Kampf um die Seele Amerikas“ führe. Soweit sich aber auf Trump überhaupt Einfluss nehmen lässt, sollte man wahrlich andere Vorbilder wählen als einen Ex-US-Präsidenten, dessen völkerrechtswidrige Politik Hekatomben von Toten hervorbrachte. Zum Beispiel Mark Twain.
ÖSTERREICH:
SCHWARZ-BLAUE SIGNALE
In der Alpenrepublik arbeiten ÖVP und FPÖ an einer Regierungszusammenarbeit. Einer der Unsicherheitsfaktoren in den Koalitionsgesprächen ist die Rolle von Bundespräsident Van der Bellen.
„NO-GO-AREAS“
Gefühle unterstehen in der politischen Debatte eines angeblich „postfaktischen Zeitalters“ einem Generalverdacht. Doch Kriminalität, Kriminalitätsfurcht und Vermeideverhalten haben ganz konkrete Folgen für die Gesellschaft, beschränken die persönliche Freiheit und verlangen nach politischen Handlungen.
DAS WELTELEND MINDERN
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin erkennt einen „bizarren Umgang mit unseren Solidaritätsressourcen“ darin, dass „wir Leute, die hierher kommen, wesentlich besser behandeln als jene, die es am nötigsten hätten“. So könnten mit dem Geld, das allein in Deutschland für Aufnahme und Integration nötig ist (laut Schätzungen 450 Milliarden Euro pro eine Million Migranten), Hunger und Armut weltweit ausgerottet werden.
SACHSENS NEUER
Wie geht es nach dem Rücktritt von Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich weiter? Michael Kretschmer, CDU-Generalsekretär im Freistaat, steht als Nachfolger bereit. Doch kann er und will er Ursachen des Wahldebakels bei der Bundestagswahl abstellen?
GEZIELTE DESTABILISIERUNG?
Rodrigo Duterte, Präsident der Philippinen, fällt in Washington zunehmend in Ungnade. Und zwar nicht wegen rechtsstaatlich nicht vertretbarer Methoden der Kriminalitätsbekämpfung, sondern wegen seines Ziels einer „unabhängigen Außenpolitik“. Dr. Bernhard Tomaschitz beleuchtet in diesem Zusammenhang die Rolle der halbstaatlichen US-Denkfabrik „National Endowment for Democracy“.
DER WEG NACH RUSSLAND
Große Spannung herrscht auf den letzten Metern der Qualifikation zur Fußball-Weltmeisterschaft im kommenden Jahr. Die acht Gruppenzweiten aus der europäischen WM-Qualifikation kämpfen in den Ausscheidungsspielen um die letzten Plätze. Die Schweiz hat dabei gute Chancen auf ein Ticket nach Russland.