Nr. 43 vom 19.10.2018

Nr. 43 vom 19.10.2018

Standpunkt

Das Potenzial der Achtsamen

Im Gegensatz zu dem Eindruck, den „Wir sind mehr“- und „Unteilbar“-Veranstaltungen hervorrufen sollen, haben sich über 64 Prozent der bayerischen Wähler für nun im Landtag vertretene Parteien ausgesprochen, die eine inländerfreundlichere Handhabung an der deutschen Bundesgrenze verlangen, als sie die Merkel-Regierung seit mehr als drei Jahren praktiziert. 37,2 Prozent entfielen dabei auf die CSU, deren Vorsitzender Horst Seehofer mit seiner Einschätzung, Migration sei die „Mutter aller Probleme“, einen eindeutigen Standpunkt vertrat. (Dass er mit der Absegnung des geplanten „Fachkräfte-Einwanderungsgesetzes“ faktisch Weichen in eine andere Richtung stellt, trat angesichts der markanten Aussagen in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund.) Den 10,4 Prozentpunkten Verlust, die die CSU hinnehmen musste, standen Gewinne von sage und schreibe 10,2 Prozent der AfD gegenüber, die aus dem Stand zweistellig wurde, sowie 2,6 Prozentpunkte Zuwachs der Freien Wähler, die 11,6 Prozent für sich verbuchen konnten.

Staats„bürgerliche“ Parteien

Im Lager der die Merkel’sche Migrationspolitik kritisierenden Parteien verortete sich auch die FDP mit ihren 5,1 Prozent spätestens, seit sie niemand Geringeren als den früheren Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Hans-Jürgen Papier bemüht hatte, nicht nur die Zulässigkeit, sondern die Verpflichtung zur Zurückweisung von über sichere Drittstaaten anreisenden Asylmigranten an der deutschen Bundesgrenze juristisch nachzuweisen. In Bayern kam hinzu, dass die FDP als Zugpferd Helmut Markwort aufgeboten hatte, dessen Name wie kein Zweiter mit dem „Focus“ verbunden ist, wo man Merkels Einwanderungspolitik kritisch verfolgt. So gelang es den Liberalen, sich von 3,3 Prozent im Jahre 2013 auf 5,1 Prozent und damit wieder in den Landtag hochzuarbeiten.

Diesen vier insofern „bürgerlichen“ Parteien, als sie den deutschen Staatsbürger in den Mittelpunkt ihrer öffentlichen Überlegungen stellen, standen bei der Bayernwahl zwei Parteien gegenüber, die Migration per se als etwas Gutes darzustellen versuchen: die SPD, die auf sensationelle 9,7 Prozent absackte und damit nur noch auf weniger als die Hälfte ihres Ergebnisses von 2013 (20,6 Prozent) kam, und die „Grünen“, die offenbar ein Gutteil des sozialdemokratischen Riesenverlusts einfingen und sich um 8,9 Prozentpunkte auf 17,5 Prozent steigerten.

Rotgrüne Interna

Während die meisten Massenmedien diese Verschiebung zwischen zwei Parteien, die sich programmatisch längst angeähnelt hatten (die SPD interessiert sich kaum noch für den „kleinen Mann“, sondern mehr für die Förderung vermeintlicher Minderheiteninteressen und Sprachpolizei, die „Grünen“ ihrerseits stellen an den Bürger keinerlei ökologische Anforderung im Sinne von Lebensstil-Disziplin), als das wichtigste Ergebnis ausgaben, ist die eigentlich dominierende Botschaft aus dem bayerischen Wahlergebnis also, dass rund zwei Drittel der Wähler eine Deutschland stärker bewahrende Politik fordern. Hingegen gaben weniger als 30 Prozent Migration idealisierenden Parteien ihre Stimme. Und selbst Letzteres geschah in vielen Fällen wohl aus anderen Gründen, nämlich bei etlichen „Grün“-Wählern in der Erwartung, mit staatlichen Maßnahmen könnte der Klimaschutz verbessert und der Flächenverbrauch gedeckelt werden (was bei fortschreitender Zertrümmerung der Welt durch Migration mit den entsprechenden Siedlungs- und Transportfolgen natürlich eine Illusion ist), und bei den Sozialdemokraten aus der traditionell noch gelegentlich vorhandenen Annahme, bei ihnen auf eine sozial gerechtere Politik hoffen zu können (was bei der Vorliebe der SPD-Führung für offene Grenzen ebenfalls utopisch ist, da man nur eines haben kann: offene Grenzen oder einen Sozialstaat).

Prioritäten

In der aktuellen Situation, in der ungezügelte Einwanderung sowohl ökologische als auch soziale Ziele ad absurdum zu führen droht, entschieden sich also zwei Drittel für Parteien, die eine Umkehr zumindest versprechen. Dafür nahmen diese Wähler in Kauf, dass sich die von ihnen favorisierten Parteien teilweise erhebliche Blößen in ihrer ausdrücklich ökologiebezogenen Programmatik gaben, was sowohl für die CSU als auch für die AfD gilt. Die Wähler haben trotzdem die Prioritäten richtig gesetzt, denn bei anhaltender radikaler Migration (mit dem damit zum Beispiel praktisch in jedem einzelnen Fall einhergehenden Flugzirkus) gibt es für diesen Planeten und seine menschliche Besiedlung kein Happy End. Ebenso wenig für den in der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Sozialstaat und schon gar nicht für die deutsche Nation. Schließlich auch nicht für die Demokratie. Denn diese lebt nicht von Parolen wie „diversity“, sondern (wie das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil und wiederholt besonders sein einstiger Richter Professor Ernst-Wolfgang Böckenförde zum Ausdruck brachten) von „relativer Homogenität“, weil nur auf ihrer Grundlage das Staatsvolk „in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozess politischer Willensbildung“ dem rechtlichen Ausdruck geben kann, was es „geistig, sozial und politisch verbindet“.

Die Bürger haben so mit großer Mehrheit zugleich die Priorität gesetzt, dass zuerst klargestellt werden muss, wem die „Wohnung“ gehört, und erst danach wieder an den Details der Einrichtung gefeilt werden kann.

Deutschland ist keine Benutzeroberfläche

Wer auf der Seite der bürgerfreundlichen, den deutschen Staat und seine demokratischen und sozialen Fundamente (durch ein gewiss mehr oder minder ernst zu nehmendes Nein zur schrankenlosen Migration) stützenden Parteien ein Defizit an ökologischer Empfindsamkeit feststellt, sollte auch bemerken, dass hier ein Paradox liegt. Namentlich die AfD vermag mit ihrer deglobalisierenden Richtung sicher mehr für die Umwelt zu leisten als die „Grünen“ mit ihrer migratorischen Agenda. Die Folgen der örtlichen Zerreißung der Lebenszusammenhänge von Familien und Völkern werden sich nämlich auch durch noch so ausgefeilte „neue Mobilitätskonzepte“ nicht annähernd kompensieren lassen. Aber Teile der migrationskritischen Bewegung sind sich der auch insoweit heilsamen Wirkung ihrer eigenen Medizin offenbar selbst nicht bewusst – so dass es dem in ökologischer Hinsicht konservativen Wähler nicht zu verdenken ist, wenn er sie ebenfalls nicht erkennt.

Es ist bisher zu wenig unternommen worden, um die Einheit der Maßnahmen darzustellen, die sowohl den deutschen Staat als Nationalstaat, als demokratischen und als sozialen Staat erhalten wie auch eine ökologische Entwicklung des Globus ohne entgrenztes interkontinentales Verkehrsaufkommen an Gütern und Personen ermöglichen. Wenn es gelänge, die Wähler, die der Erhaltung Deutschlands in substanziell wiedererkennbarer Form die Priorität beimessen, mit jenen zu vereinigen, die – aus einem ebenfalls konservativen Motiv – den Akzent unmittelbar auf die Bewahrung der Welt setzen, wenn also das schützende, achtsame Potenzial all derer, die Deutschland und den Planeten nicht als bloße, per Smartphone zu erschließende Benutzeroberfläche betrachten, gebündelt würde, wäre dies ein politischer Meilenstein.

Ulrich Wenck

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 19. Oktober 2018

DEUTSCHLANDS KRISE

Der Ausdruck „Herrschaft des Unrechts“, mit dem Horst Seehofer im Februar 2016 Merkels Asyl- und Migrationspolitik kritisierte, geht auf den Staatsrechtler Ulrich Vosgerau zurück. Nun hat der Privat-Dozent unter diesem Titel ein Buch veröffentlicht. In seinen Augen hat sich das Einwanderungsgeschehen seit dem Spätsommer 2015 zu einer Krise ausgewachsen, die auch grundsätzliche Fragen wie die Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland als National- und Sozialstaat berührt.

MACRONS GESCHWUNDENE
POPULARITÄT

71 Prozent der Franzosen halten ihren Präsidenten Emmanuel Macron für „arrogant“. Seine Beliebtheitswerte stürzen dramatisch ab. Profitieren können davon die Parteien von Marine Le Pen und Laurent Wauquiez. Acht Monate vor der Europawahl befinden sie sich im Aufwind.

MIETEN STATT KAUFEN

Der immer dichter werdende individuelle Autoverkehr in deutschen Städten, der häufig im Stau endet und so die Luft noch mehr verschmutzt, wirft die Frage nach Alternativen für diese Form der Mobilität auf. Was kann das Gemeinschaftsauto („Carsharing“) zur Lösung der Verkehrsprobleme beitragen?

PHRASEN STATT AUSTAUSCH

Führungsetagen von im Rampenlicht stehenden Fußballvereinen sind im Ringen um einen zeitgeistkonformen Ton schnell überfordert. Das unterstreicht ein aktueller Vorgang aus Bremen. Toleranz zu predigen, ist nicht schwer; Toleranz zu praktizieren, dagegen sehr.

WACHABLÖSUNG IN BRASÍLIA?

Medien reihen düstere Superlative aneinander, um die derzeitige Lage in Brasilien zu kommentieren – weil Jair Bolsonaro bei der Stichwahl zum Präsidenten des größten lateinamerikanischen Staates gewählt werden könnte.

ZUM RODUNGSSTOPP IM
HAMBACHER FORST

Recht überraschend hatte das Oberverwaltungsgericht Münster am 5. Oktober einen vorläufigen Rodungsstopp im Hambacher Wald verfügt. Denn der Ausgang des von Naturschützern angestrengten Klageverfahrens sei offen; insofern dürften jetzt keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden.

BEHUTSAM BAUEN

Eine Bestandsaufnahme des Münchner Baureferats hatte 2016 ergeben, dass zwar die technische Ausstattung des Kulturzentrums Gasteigs saniert werden müsse, die Hülle aber weitgehend intakt sei. Doch keineswegs jeder will sich mit den notwendigen Eingriffen zufriedengeben und die vorhandene „graue Energie“ nutzen.

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