Nr. 41 vom 6.10.2017

Nr. 41 vom 6.10.2017

Standpunkt

Eine Entscheidung,
aber keine Anordnung?

Mit einer bereits am 24. Mai 2017 abgeschlossenen, aber erst jüngst bekannt gewordenen Ausarbeitung – „Einreiseverweigerung und Einreisegestattung nach § 18 Asylgesetz“, Aktenzeichen WD 3 – 3000 – 109/17 – sind die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages zum wiederholten Male im Gutachtenstil Fragen zur Einreiseverweigerung und zur Einreisegestattung gemäß § 18 Asylgesetz (AsylG) gegenüber Asylsuchenden, die über sichere Drittstaaten anreisen, nachgegangen. Darin heißt es: „Nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG ist Asylsuchenden die Einreise zu verweigern, wenn sie aus einem sicheren Drittstaat einreisen wollen. Die Pflicht zur Einreiseverweigerung gilt allerdings nicht ausnahmslos. Vielmehr sieht § 18 Abs. 4 AsylG zwei Ausnahmen vor, und zwar für den Fall einer unions- oder völkerrechtlich begründeten Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung von Asylverfahren gemäß § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG – einschlägig sind insoweit die sog. Dublin-Zuständigkeiten nach der Dublin-III-Verordnung, VO [EU] Nr. 604/2013 – sowie das Vorliegen einer entsprechenden Anordnung des Bundesministeriums des Innern aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG.“ Bekanntlich ist die Ausnahme seit mehr als zwei Jahren die Regel – wer an der Bundesgrenze ein „Interesse an Schutz oder Asyl in der Bundesrepublik“ signalisiert, den muss die Bundespolizei nach der bestehenden Weisungslage hereinlassen.

Kein Einreiserecht zur Zuständigkeitsprüfung

Eine Absage wird in der Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste letztlich der Auffassung erteilt, dass bereits die Prüfung der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens einen EU-Mitgliedstaat dazu verpflichte, die Einreise von Asylsuchenden zu gestatten. Verwiesen wird auf Art. 20 Abs. 4 S. 1 der Dublin-III-Verordnung, der lautet: „Stellt ein Antragsteller bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats einen Antrag auf internationalen Schutz, während er sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, obliegt die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Antragsteller aufhält.“ Zitiert wird auch der Kommentar von Christian Filzwieser und Andrea Sprung (2. Aufl., 2014) zur Dublin-III-Verordnung, wo es heißt: „Wenn eine Antragstellung an der Grenze zweier Mitgliedstaaten am Grenzüberwachungsposten vor der Einreise in den zweiten erfolgt, ist der erste Mitgliedstaat für das Zuständigkeitsprüfungsverfahren zuständig und kann der Fremde vom zweiten Mitgliedstaat an der Einreise gehindert werden.“

Rechtsgrundlage?

In der Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste wird die auf das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip genützte Auffassung diskutiert, dass es für „die pauschale und massenhafte Einreisegestattung gegenüber Asylsuchenden“ einer Beteiligung des Bundestages bedurft hätte, weil diese mit „erheblichen Folgen für das Gemeinwesen verbunden ist“ – vom Verwaltungsaufwand und den Kosten über „Langzeitwirkungen“, wenn Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber in die Herkunftsstaaten nicht möglich sind, bis hin zur Veränderung der Gesellschaftsstruktur.

Gewiss nicht ohne Grund hat die Bundesregierung es unterlassen, sich festzulegen, was sie als Rechtsgrundlage der massenhaften Einreisegestattung bemühen möchte. Dies offenbart das Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste unter „3.4. Rechtliche Einordnung durch die Bundesregierung?“, wo es heißt: „Unklar ist allerdings, ob und inwieweit die Ausnahmetatbestände des § 18 Abs. 4 AsylG von der Bundesregierung als Grundlage für die Einreisegestattungen ab Ende August/Anfang September 2015 herangezogen wurden.“

Der CSU-Bundestagsabgeordnete Stephan Stracke hatte die Bundesregierung schriftlich gefragt: „Mit welchem Wortlaut hat das Bundesministerium des Innern nach § 18 Absatz 4 Nummer 2 des Asylgesetzes (AsylG) angeordnet, von der Einreiseverweigerung gegenüber Asylsuchenden nach § 18 AsylG abzusehen, und wie lange gilt bzw. galt diese Anordnung (bitte unter Angabe des Zeitpunktes und der Art der Veröffentlichung)?“

Die Antwort der Bundesregierung vom 5. Februar 2016 ist ausweichend: „Maßnahmen der Zurückweisung an der Grenze mit Bezug auf um Schutz nachsuchende Drittstaatsangehörige kommen derzeit nicht zur Anwendung (§ 18 Absatz 2, 4 AsylG). […] Die Entscheidung, den betreffenden Personenkreis nicht zurückzuweisen, wurde im Zusammenhang mit der vorübergehenden Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den deutschen Binnengrenzen im Rahmen der bestehenden Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung getroffen.“

Die Wissenschaftler, die das Bundestagsgutachten verfasst haben, wundern sich nun, dass die genaue Rechtsgrundlage für das Absehen von der Einreiseverweigerung „gerade nicht benannt und das Vorliegen einer Anordnung des Bundesministeriums des Innern trotz der konkreten Fragestellung nicht ausdrücklich zurückgewiesen“ wird.

Aufklärungsbedarf

Interessanterweise stimmt die Antwort, die das Bundesinnenministerium am 16. Februar 2016 einem Bürger auf eine auf das Informationsfreiheitsgesetz gestützte Anfrage zur „Aufhebung, Aussetzung oder Unwirksammachung“ der Bestimmung, die Einreise aus einem sicheren Drittstaat zu verweigern, gab, mit der Antwort an den Abgeordneten Stracke überein, enthält aber noch die Angabe: „Eine schriftliche Anordnung des BMI gibt es nicht.“

Dass eine Anweisung de Maizières existiert, legte freilich ein Bericht der „Bild“-Zeitung vom 17. September 2015 sehr konkret nahe, wonach der Bundesinnenminister am Sonntag, 13. September 2015, eine „vertrauliche Ministeranordnung an die Bundespolizei“ unterzeichnet und damit, wie das Bundesinnenministerium bestätigt habe, § 18 Absatz 2 Nr. 1 Asylgesetz „außer Kraft“ gesetzt habe.

Da die „im Rahmen der bestehenden Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung“ getroffene Entscheidung zur Nichtzurückweisung an der Grenze bis heute umgesetzt wird, muss sie irgendwie an die Bundespolizei kommuniziert worden sein. Hat man in einer so wesentlichen und folgenschweren Angelegenheit also nicht nur das Parlament nicht eingeschaltet und die Rechtsgrundlage offen gelassen, sondern auch eine schriftliche Anordnung für überflüssig gehalten? Erfolgt die nun schon seit mehr als zwei Jahren praktizierte Nichtzurückweisung an der Grenze auf lediglich mündlichen Zuruf aus der Bundesregierung an die Bundespolizei? Oder aufgrund einer Geste der Kanzlerin? Weil, was nicht schriftlich fixiert ist, auch nicht Abgeordneten, Journalisten und Bürgern, die Auskunftsansprüche geltend machen, herausgegeben werden kann? Hier lohnt es sich, im neuen Bundestag genauer nachzuhaken.

Ulrich Wenck

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 6. Oktober 2017

OPPOSITION, EINE
NEUE GEISTESKRANKHEIT?

In einer Reihe von Bundesländern konnte die AfD bei der Bundestagswahl herausragende Ergebnisse verbuchen. Nun stehen die Wähler am Pranger. Verschiedene Medien setzten dabei vor allem den „ostdeutschen Mann“ auf die Couch. Tenor: Politische Kritik entspringt nicht etwa ernstzunehmenden Erwägungen, sondern einer kaputten Psyche. Ein unhaltbares Konstrukt.

KERNSCHMELZE IN WIEN

Kosten Affären die SPÖ Platz 2? Die Partei von Bundeskanzler Christian Kern befindet sich kurz vor der Nationalratswahl am 15. Oktober in argen Turbulenzen. Wahlkampfleiter und SPÖ-Bundesgeschäftsführer Georg Niedermühlbichler musste zurücktreten. Weil auch Herausforderer Sebastian Kurz (ÖVP) etwas schwächelt, steht HC Strache (FPÖ) im Augenblick als lachender Dritter da.

NEUES VOM BREXIT

In ihrer Grundsatzrede in Florenz hat die britische Premierministerin Theresa May unterstrichen, dass Großbritannien der Europäischen Union und nicht Europa den Rücken kehre. Und sie begründete, warum man sich in der EU „nie wirklich zuhause gefühlt“ habe.

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Der französische Staatspräsident Macron und Brüssel wollen die EU in Richtung eines europäischen Bundesstaates entwickeln – und die dafür notwendigen gemeinsamen Institutionen vor allem von der Bundesrepublik Deutschland finanzieren lassen?

„GEWALTIGE ZAHLEN“

In einem halben Jahr laufen die Beschränkungen beim Familiennachzug für syrische Asylbewerber mit subsidiärem Schutz aus. Kann es sich die CSU erlauben, in dieser Frage umzukippen?

GEWAPPNET GEGEN KONKURRENZ?

Mit der geplanten Zusammenlegung der Zugsparten von Siemens und dem französischen Hersteller Alstom könnte schon bald ein neuer Bahntechnik-Riese den Markt erobern. Die Hochgeschwindigkeitszüge ICE und TGV kommen, sofern die EU-Kartellbehörden zustimmen, künftig aus einem Haus.

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Trotz der problembehafteten Durchführung der Energiewende war das im Jahr 2000 vom Bundestag beschlossene und inzwischen mehrfach novellierte Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) ein energiepolitischer Meilenstein. Weil es bei der Umsetzung hakt, besteht politischer Handlungsbedarf.

HERMANNS SCHLACHT

Wo siegte Arminius tatsächlich über Varus? Im Ausgrabungsareal des Museumsparks Kalkriese haben Archäologen nun erneut interessante Entdeckungen gemacht, die Aufschluss darüber geben sollen, an welchem Ort der „Urknall der deutschen Geschichte“ wirklich stattfand.

 

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