Nr. 36 vom 31.8.2018

Nr. 36 vom 31.8.2018

Standpunkt

Entsetzen

Entsetzen war das meistgebrauchte Wort nach den Vorgängen in Chemnitz am Sonntag, 26. August. Für die einen steht dabei der gewaltsame Tod des am Rande des Stadtfests erstochenen Daniel Hillig (35) im Vordergrund, an den Blumen und Kerzen in der Chemnitzer Innenstadt erinnern. Andere zeigten sich über die anschließenden „Menschenansammlungen“ erschrocken (Stadtsprecher Robert Gruner) beziehungsweise entsetzt (Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig, SPD). Was war passiert?

Sonntagmittag veröffentlichte die Polizei Sachsen eine Pressemitteilung, wonach es in den frühen Morgenstunden „in der Brückenstraße nach einem verbalen Disput zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen mehreren Personen unterschiedlicher Nationalitäten gekommen“ sei. „In deren Folge erlitten drei Männer (33/35/38) teils schwere Verletzungen. Sie wurden in Krankenhäuser gebracht. Der 35-Jährige erlag noch in der Nacht in einem Krankenhaus seinen schweren Verletzungen.“

Als eines der ersten Medien hatte das Lokalportal „Tag24“ den Fall gemeldet. Übereinstimmend wurde berichtet, dass es sich bei den drei Opfern um Deutsche handelte. Am Montagnachmittag folgte dann die offizielle Bestätigung der Staatsanwaltschaft, dass gegen einen 23-jährigen Syrer und einen 22-jährigen Iraker Haftbefehl erlassen worden sei. Die beiden waren noch in der Tatnacht festgenommen worden. Ihnen werde vorgeworfen, „ohne rechtfertigenden Grund“ mehrfach auf den 35-jährigen Deutschen eingestochen zu haben, teilte die Behörde mit.

Stadtfest abgebrochen

Nach einer derart schockierenden Tat erwartet man von offiziellen Stellen Objektivität und Anteilnahme. Beides suchte man vergeblich. „Dass es möglich ist, dass sich Leute verabreden, ansammeln und damit ein Stadtfest zum Abbruch bringen, durch die Stadt rennen und Menschen bedrohen – das ist schlimm. Denen, die sich hier angesammelt haben, bewusst auch keine Versammlung angemeldet haben, geht es darum, genau das Stadtfest zu stören, die Situation zu chaotisieren, damit die Menschen noch mehr Angst kriegen, und genau das dürfen wir uns nicht gefallen lassen“, sagte die Chemnitzer Bürgermeisterin Ludwig.

Tatsächlich war das Stadtfest früher als geplant beendet worden, weil dem Veranstalter angesichts einer Spontandemonstration das Sicherheitsrisiko zu hoch schien und nicht, wie anfangs behauptet, aus Gründen der Pietät. Das habe man gesagt, um Panik zu vermeiden.

Wer sich nun auf die Versammlungen seit dem späten Sonntagnachmittag fokussiert, geht einer Erörterung der Ursachen der Tat und der eigentlichen und berechtigten Sorge vieler Bürger aus dem Weg. Die sind nämlich in der Entfriedung des Gemeinwesens infolge der seit 2015 für jedermann offenen Bundesgrenze zu suchen.

Mit Risiken behaftet war das diesjährige Chemnitzer Stadtfest von Anfang an, wie eine Polizeimitteilung zur eigenen starken Präsenz vom 23. August vermuten lässt. Schon 2017 hatten Massenschlägereien, laut Polizei „vorwiegend unter Alkoholeinfluss begangene Körperverletzungsdelikte zwischen verschiedenen Personengruppen unterschiedlicher Nationalitäten“, am Vortag des Stadtfests für Unruhe gesorgt. Bei der eigentlichen Party gab es Rangeleien vor der Bühne des Radiosenders „MDR Jump“. „Auf Bitten der Sicherheitskräfte hat das MDR Jump-Team an die Besucher appelliert, friedlich zu feiern. Ebenso kamen wir dem Wunsch der Einsatzzentrale der Polizei nach und beendeten unser Bühnenprogramm bereits 0.30 Uhr statt um 1 Uhr“, so eine damalige Stellungnahme.

Das Opfer vergessen

Auf der Internet-Seite der „Tagesschau“ konnte man sich nun zum Thema „Chemnitz und die rechte Gewalt“ informieren. Nicht zuletzt den Angehörigen und Freunden des Opfers wäre man es schuldig, die politische Verantwortung der Tat zu hinterfragen. Doch Daniel Hilligs Schicksal rückt immer mehr in den Hintergrund.

Dass der Tod des 35-Jährigen sogar zur Randnotiz werden kann, bewies Spiegel-Redakteur Georg Diez, der keine 24 Stunden nach der Tat das Opfer offenbar schon vergessen hatte und twitterte: „Angela Merkel kann zu #Chemnitz nicht schweigen. Oder muss es erst wieder Tote geben?“

Die Bundesregierung schwieg nicht. Jedoch war zunächst weder die Gewalttat noch das Gedenken an das Opfer Anlass für eine Erklärung. Regierungssprecher Stefan Seibert sagte am Montag: „Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft, oder der Versuch, Hass auf den Straßen zu verbreiten, das nehmen wir nicht hin. […] Das kann ich für die Bundesregierung sagen, dass wir das auf Schärfste verurteilen.“ Er bezog sich dabei auf das, „was in Videos festgehalten wurde“. Das klingt nach einer dünnen Quellenlage.

Stellungnahme der Polizei

Am Rande der zweiten Versammlung am Sonntag war es tatsächlich zu hässlichen Szenen und unmöglichen Zwischenrufen gekommen, dennoch sollte auch hier Objektivität walten, eben um pauschale Diffamierungen, wie sie Versatzstücke à la „rechter Mob“ darstellen, zu vermeiden. Auch juristisch ist es geboten zu differenzieren. Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1985 unterscheidet nicht umsonst zwischen kollektiver Unfriedlichkeit und Konstellationen, in denen einzelne oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen – in letzterem Fall bleibt für die friedlichen Teilnehmer einer Versammlung der vom Grundgesetz jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit erhalten.

Der „Spiegel“ formulierte etwas vorsichtiger („harter Kern aus Menschen mit Bezug zur Hooliganszene machte offenbar Jagd auf ausländisch aussehende Menschen“) als Seibert und berief sich an anderer Stelle, wie auch der „Focus“, auf den freien Journalisten Johannes Grunert. Die „Zeit“ veröffentlichte einen Artikel von ihm, der die Überschrift „Rechte jagen Menschen in Chemnitz“ trug. Auf „Twitter“ hatte sich Grunert, der sich vor dem Stadtfest mokiert hatte, dass die AfD dort störungsfrei einen Stand unterhalten könne, der für den „Zeit“-Blog „Störungsmelder“ schreibt und vor einem Jahr das Verbot von „Indymedia Linksunten“ öffentlich bedauerte, im Minutentakt zu dem spontanen Aufzug geäußert und schrieb von „Jagdszenen gegenüber Migrant*innen an der Zentralhaltestelle, dem Johannisplatz und dem Johanniskirchenparkplatz“.

In einer Pressekonferenz am Sonntagabend mit der Polizei war das kein Thema. Wohl wurde die mangelnde Kooperationsbereitschaft seitens der vermeintlichen Organisatoren und sonstiger Teilnehmer erwähnt und ferner bestätigt, dass Glasflaschen auf Beamte geworfen worden waren. Festnahmen habe es keine gegeben. Der Pressemitteilung vom 26. August, 20:15 Uhr, war allerdings zu entnehmen, dass zu diesem Zeitpunkt vier Anzeigen bearbeitet wurden, zwei wegen Körperverletzung, eine wegen Bedrohung und eine wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.

Kein Verständnis für Pöbeleien

Dass jede Straftat, ob sie nun zur Anzeige kommt oder nicht, eine zu viel ist, betonte der Publizist Felix Menzel in einem Kommentar am Montag. Die für solche Taten Verantwortlichen böten zudem „eine Steilvorlage zum Denunzieren anständiger Patrioten“. „Kein Verständnis für Pöbeleien, für Angriffe auf Ausländer oder anderes unangemessenes Verhalten“ – dies erwartet der gebürtige Chemnitzer von „aufrichtigen, anständigen Bürgern, die für die Sicherheit ihrer Stadt streiten und für eine politische Wende“.

Ähnlich äußerten sich Abgeordnete der AfD im Bundestag. Siegbert Droese wies ausdrücklich auf die erste Chemnitzer Kundgebung am Sonntag hin. Zu der hatte die Polizei mitgeteilt: „So hatten sich gegen 15 Uhr reichlich 100 Personen im Bereich Brückenstraße/Straße der Nationen im Bereich eines bestehenden Infostandes eingefunden. Ohne weitere Vorkommnisse hatten die Personen bis gegen 16.00 Uhr den Ort verlassen.“

Amelie Winther

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 31. August 2018

ZUR „STAATSKRISE“ AUFGEBAUSCHT

Polizisten in Sachsen kontrollierten ein für das ZDF tätiges Fernsehteam, das zuvor Teilnehmer einer Anti-Merkel-Demonstration gefilmt hatte. Bundesjustizministerin Barley (SPD) erklärte daraufhin, die Vorgänge seien „wirklich besorgniserregend und müssen dringend und umfassend aufgeklärt werden“. Was genau war geschehen?

AUSGEWOGENE BERICHTERSTATTUNG?

Der mediale Umgang mit der Tötung eines Offenburger Hausarztes durch einen somalischen Asylbewerber hat Fragen aufgeworfen. Dass die „Tagesschau“ nicht berichtete, wird von dem grünen Querdenker Boris Palmer kritisiert. Die Argumentationslinien.

„NICHT PROGRAMMPRÄSENT“

Hinrich Lührssen, ein besonders in Norddeutschland bekannter und beliebter freier Mitarbeiter von Radio Bremen, wirkt künftig im Landesvorstand der AfD in der Hansestadt mit. Die Aufregung ist groß. Wer nun Stimmung gegen den Reporter macht.

SOZIAL ENTRECHTETE IM FOKUS

Am 4. September soll die von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine initiierte und bislang nur im Internet präsente Sammlungsbewegung „Aufstehen“ ins reale Leben treten. Über die Motive der prominenten Köpfe der Linkspartei wird in allen politischen Lagern diskutiert.

BENETTONS DUNKLE FARBEN

Verpflichtungen gegenüber Umwelt und Menschenwürde sind beim Modeunternehmen Benetton zuweilen nur Lippenbekenntnisse: Es hat sich seinen schlechten Ruf redlich verdient. Die Kritik sorgt dafür, dass das „Wohlfühllabel“ der „United Colors of Benetton“ empfindliche Risse bekommt.

EZB: WACHSENDER UNMUT

Das Beispiel Griechenland zeigt, wie politisches Wunschdenken gegen finanzpolitische Vernunft steht. Auch die Deutsche Bundesbank und ihr Präsident Jens Weidmann kritisieren die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank öffentlich.

ÖKONOMISCHER UND
ÖKOLOGISCHER FAKTOR

Das Kreislaufwirtschaftsgesetz, seit 2012 in der Bundesrepublik in Kraft, fordert in Bezug auf Abfälle: Vermeidung, Vorbereitung zur Wiederverwendung, Recycling, sonstige Verwertung und Beseitigung von Abfällen. Wie ist es um Potenzial und Zukunft systematischer Schrottverwertung bestellt?

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