Nr. 34 vom 17.8.2018

Nr. 34 vom 17.8.2018

Standpunkt

Taschenspielertrick

Konfrontiert man Angela Merkel, andere Mitglieder der CDU-Nomenklatur oder regierungsaffine Journalisten mit der Tatsache, dass die massenhafte und pauschale Einreisegestattung, die seit der Wiedereinführung von „Grenzkontrollen“ am 13. September 2015 bundesdeutsche Praxis ist, schweren rechtlichen Bedenken unterliegt und nach Auffassung maßgeblicher deutscher Verfassungs- und Staatsrechtler rechtswidrig ist, verweisen diese inzwischen stereotyp auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom Juli 2017. Merkel führte die Methode bei der Regierungsbefragung am 6. Juni 2018 vor. Dr. Gottfried Curio (AfD) hatte die „Durchwinkekultur, die im Kanzleramt ihren Ausgang nahm“, als „Rechtsbruch“ gekennzeichnet, der „Deutschland schwersten Schaden zugefügt“ und „unendliches menschliches Leid“ verursacht habe. Merkel entgegnete: „Wir hatten im Jahr 2015 […] eine außergewöhnliche humanitäre Situation, in der Deutschland verantwortlich gehandelt hat. Im Übrigen ist durch den Europäischen Gerichtshof mit seinem Urteil vom Juli 2017 auch bestätigt worden, dass rechtmäßig gehandelt wurde.“

Scheinbar sachlich

Bei dieser trockenen, scheinbar sachlichen Replik handelt es sich um einen Taschenspielertrick, den leider nur wenige Fachleute als solchen erkennen, so dass er allzu oft Erfolg hat. Merkels Behauptung bezieht sich auf folgende in dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 26. Juli 2017 (Rechtssache C-646/16) tatsächlich enthaltene Erwägung: EU-Mitgliedstaaten könnten von der „Eintrittsklausel“ in der Dublin-III-Verordnung Gebrauch machen, die es ihnen gestatte, bei ihnen gestellte Anträge auf internationalen Schutz auch dann zu prüfen, wenn sie nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig sind.

Prüfungsmaßstab des Europä­ischen Gerichtshofs (EuGH) ist jedoch nur das Unionsrecht. Aber das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Recht beschränkt sich, auch wenn man den Anwendungsvorrang von Unionsrecht gegenüber nationalem Recht anerkennt, bekanntlich nicht auf EU-Recht. Zugespitzt: Die Tatsache, dass ein Diebstahl nicht EU-rechtswidrig ist, heißt nicht, dass er rechtmäßig wäre – denn er verstößt gegen die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten.

Was EU-rechtlich zulässig ist, muss es
innerstaatlich keineswegs sein

Hans-Jürgen Papier, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat sich in der „Rechtsgutachtlichen Stellungnahme zu Fragen der Einreiseverweigerung“, die er kürzlich im Auftrag der FDP-Bundestagsfraktion abgab, auch zu der an dieser Stelle notwendigen Differenzierung geäußert. Er stellt darin klar, dass das EU-Recht zwar jedem EU-Mitgliedstaat das Recht zum Selbsteintritt gewähre, so dass die Bundesrepublik Deutschland insoweit Asylverfahren auch in Fällen an sich ziehen und durchführen darf, in denen sie an sich nicht zuständig ist, doch: „Ein solcher Selbsteintritt ist unionsrechtlich zulässig, keinesfalls aber geboten.“ Vor allem: Deutsche Behörden dürften das damit „vom Unionsrecht eingeräumte Ermessen aus innerstaatlichen Rechtsgründen nicht entgegen den zwingenden Normen des deutschen Rechts ausüben“. Und dieses nationale Recht sehe im Falle der Einreise aus einem sicheren Drittstaat grundsätzlich die Einreiseverweigerung (§ ⁠18 Absatz 2 Nr. 1 Asylgesetz) vor.

Fazit: Man mag die Frage der Rechtswidrigkeit der pauschalen Einreisegestattung verschieden beurteilen. Viel spricht dabei für die Auffassung Papiers, der den Verfechtern einer Rechtmäßigkeit der gegenwärtigen Praxis (jeder darf rein, der „Interesse an Schutz oder Asyl in der Bundesrepublik“ zum Ausdruck bringt) eine gravierende und „sehr oberflächliche“ Fehlauslegung der Dublin-III-Verordnung vorwirft. Diese Auslegung führt die Anhänger der für jedermann offenen deutschen Bundesgrenze zu dem Ergebnis, dass nach ihrer Auffassung für die Anwendung der Vorschrift über die Einreiseverweigerung in § 18 Absatz 2 Nr. 1 des deutschen Asylgesetzes kein Raum bleibt.

Fake-News und Vereinfachung

Aber wie auch immer man zu dieser Frage steht, eins ist sicher: Aus besagtem EuGH-Urteil vom 26. Juli 2017 folgt nicht, dass Merkels Handeln rechtmäßig sei. Dazu, ob das im Rahmen der EU-rechtlichen Vorgaben anwendbare inländische Recht, für das sich der EuGH seiner Aufgabe nach nicht interessieren kann und muss, gewahrt ist, trifft dieses Urteil naturgemäß vielmehr keine Aussage.

Hingegen wird Merkels instrumentales Verhältnis zum Volk und zu den „Informationen“, mit denen sie es versorgt, deutlich, wenn mit einem so billigen Trick wie dem Verweis auf das „Urteil vom Juli 2017“ die schweren rechtlichen Einwände gegen ihr Vorgehen weggebügelt werden sollen. Es handelt sich hier um das, was viele Merkel-Parteigänger zu bekämpfen vorgeben, nämlich um Fake-News und grobe Vereinfachung.

Ulrich Wenck

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 17. August 2018

IN EINEM BOOT

Die am 8. August im Ersten ausgestrahlte Dokumentation „Kulenkampffs Schuhe“ über das Unterhaltungsfernsehen der jungen Bundesrepublik förderte nichts wesentlich Neues zutage, ist aber ein überwiegend einfühlsames Porträt einer Generation, die durch die Erfahrungen der Kriegsjahre geprägt war.

„HÖLLENRITT“ EINER GEMEINDE

Der CDU-Bürgermeister von Boostedt wendet sich mit einem Hilferuf an die Öffentlichkeit, weil sich der kleine Ort in Schleswig-Holstein mit der großen Zahl von Asylbewerbern überfordert sieht.

WAS WILL WAGENKNECHTS SAMMLUNG?

Nach Angaben von Oskar Lafontaine, immer noch führender Kopf der Linkspartei, soll es in der Bundesrepublik mehr als 60.000 Personen geben, die sich als Unterstützer der neuen Sammlungsbewegung „Aufstehen“ angemeldet hätten. Welches Potenzial hat das Projekt?

„GRÜNE“ AUF DEM PRÜFSTAND

Annalena Baerbock, Vorsitzende der „Grünen“, hat im ZDF-Sommerinterview die Grundpfeiler ihrer Politik umrissen. „Pro-europäisch, ökologisch, gerecht“ soll sie sein. Doch diesem Anspruch wird die Partei kaum gerecht. Das migrationspolitische Programm der „Grünen“ ist nämlich weder ökologisch noch gerecht.

FALKEN GEGEN RUSSLAND

US-„Neocons“ rufen nach schärferen Sanktionen gegen Russland. Der Anti-Interventionist Ron Paul hält dagegen: „Auf sie ist immer Verlass, wenn es darum geht, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen, Beweise zu ignorieren und den gesunden Menschenverstand auszuschalten, um uns in einen weiteren Krieg zu ziehen.“

MANIPULIERT DIE EZB DEN EURO?

US-Präsident Donald Trump sieht die Vereinigten Staaten nun auch einem Währungskrieg ausgesetzt. Droht die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank in einem gewaltigen Fiasko zu enden? Ein Faktencheck, was es mit den Vorwürfen auf sich hat.

WASSER SCHÖPFEN

Pfarrer Paul Fischer berichtet von einer uralten Bewässerungstechnik: „Die uns plagende Hitze und Trockenheit ließ mich an die Zeiten denken, als im Frankenland noch unzählige Wasserschöpfräder in Betrieb waren, um das sandige Regnitztal zwischen Fürth und Forchheim zu bewässern.“

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