Nr. 32 vom 5.8.2016
Standpunkt
Auf Erdoğan angewiesen?
Bis zu 40.000 Türken, von denen die meisten (auch) die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, demonstrierten am 31. Juli in Köln nach ihren eigenen Worten „für Erdoğan“, „für unser Volk“, „für unser Land“ und „für die Demokratie“, wie sie sie verstehen. Wohl nicht zufällig am selben Tag stellte Ankara das Ultimatum: Kommt die Visumfreiheit für türkische Bürger nicht bis spätestens Oktober, platzt der „Flüchtlingsdeal“ der Kanzlerin. Merkel ist zuzutrauen, dass sie versucht, der Forderung trotz aller damit für Deutschland und Europa verbundenen Nachteile letztlich zum Erfolg zu verhelfen.
Einem Entgegenkommen gegenüber Erdoğan in der Frage der Visumfreiheit für türkische Staatsbürger steht derzeit die Haltung der EU-Kommission entgegen, die darauf besteht, dass alle Bedingungen erfüllt sein müssten. Größter Knackpunkt ist die von Brüssel geforderte Änderung der türkischen Anti-Terror-Gesetzgebung, die ein staatliches Vorgehen auch gegen kritische Journalisten und Akademiker ermöglicht. Nachdem Erdoğan nach Ausrufung des Ausnahmezustands bereits weit über diese Möglichkeiten hinausgegangen ist, erscheint die Erfüllung dieser Forderung illusorisch.
Ob Merkel, die das Türkei-Abkommen als einzige Möglichkeit darstellt, „das“ zu „schaffen“, die EU zu einem Richtungswechsel bewegen kann? Im Bundesinnenministerium wird befürchtet, dass die Zahl der Asylanträge von Kurden türkischer Staatsangehörigkeit massiv anstiege. Jetzt kämen noch jene Türken hinzu, die angeben könnten, wegen Erdoğans Politik nicht mehr in das Land zurückzukehren.
Der britische Türkei-Experte Gareth Jenkins hat schon vor Monaten gewarnt, dass nach Einführung der Visumfreiheit Menschen aus der Türkei in großer Zahl nach Europa kommen würden und ein „substanzieller Teil“ Asyl beantragen oder in die Schattenwirtschaft abtauchen würde.
Eine Aufkündigung des Rücknahmeabkommens durch die Türkei wäre hingegen nicht das Hauptproblem. Denn bislang ist der zu verzeichnende Rückgang des Zustroms nicht auf dieses Abkommen, sondern auf die Sperrung der Balkanroute zurückzuführen.
Steigt Erdoğan aus dem Abkommen aus, könnte das auch ein Signal für die EU und ihre Mitgliedstaaten sein, selbst die EU-Außengrenzen und die Grenzen der Mitgliedstaaten zu sichern. Merkel hat aber gerade wieder ihre im Widerspruch zu § 18 Asylgesetz und den Fachleuten des Bundesinnenministeriums stehende „Auffassung“ bekräftigt, wonach die Zurückweisung eines Asylbegehrenden an der deutschen Bundesgrenze nicht möglich sei. Für die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Mittellage käme es unter dieser Kanzlerin also darauf an, dass bereits ihre Nachbarn handeln. Dann entfiele der wichtigste Migrationsmagnet.
FW
Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 5. August 2016
FRANKREICH NACH DEM PRIESTERMORD
Der Blick, den man von Deutschland aus auf Frankreich hat, täuscht. Oberflächlich gesehen scheint dort alles „noch schlimmer“, aber gleichzeitig vollzieht sich bei unseren Nachbarn ein Wandel – und eine offene Diskussion.
WAS MAN VOR ZWEI JAHRZEHNTEN WUSSTE
„Gefährlich fremd. Das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft“: So lautete der Titel des „Spiegel“ vom 14. April 1997. Heute ignorieren sowohl das Nachrichtenmagazin als auch die darin zitierte jetzige Kanzlerin die Einsichten von damals. Merkels „Weiter so“ setzt Demokratie, Frieden und Wohlstand aufs Spiel.
SAHRA WAGENKNECHTS MEINUNG
Nach dem Terroranschlag in Ansbach hat Sahra Wagenknecht Zweifel am „Wir schaffen das“ geäußert. Damit ist die Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag ins Visier von Funktionären der eigenen Partei und vieler Medien geraten. Wer verbal ausschert, bekommt Ärger, auch wenn er ausspricht, was viele Bürger unterschreiben würden.
ABKEHR VON DEN USA
Die Türkei wendet sich Russland und dem Iran zu. Am 9. August treffen in Sankt Petersburg Putin und Erdogan zusammen, um zu demonstrieren, dass sich die bilateralen Beziehungen normalisiert haben. Dr. Bernhard Tomaschitz analysiert die Lage.
MEHR DEUTSCH IN DER EU?
Welchen Grund gibt es, nach dem Brexit die englische Sprache in der EU weiterhin zu bevorzugen und die deutsche zu benachteiligen? Mögliche Auswirkungen des bevorstehenden Austritts Großbritanniens auf die künftigen Sprachregeln in Straßburg und Brüssel.
„ZEIT FÜR LEGENDEN“
In der vergangenen Woche startete mit „Zeit für Legenden“ ein Film in deutschen Kinos, der 80 Jahre nach der Eröffnung der Spiele von 1936 in Berlin dem Ausnahmesporter Jesse Owens ein Denkmal setzt. Auch sonst bietet der Streifen interessante Einblicke.
HOFFNUNG AUF DIE BESSERE WELT
„Die Liebe der Danae“, die vorletzte Oper von Richard Strauss, feierte am 31. Juli bei den Salzburger Festspielen eine viel beachtete Premiere, was nicht zuletzt an Regisseur Alvis Hermanis lag. Der 51-jährige Lette inszeniert das Stück als farbenfrohes Märchen und zelebriert die Kunst als Fluchtpunkt und Rückzugsort.