Nr. 31 vom 26.7.2019

Nr. 31 vom 26.7.2019

Standpunkt

Europäischer Bürger?

Wurde mit der Wahl Ursula von der Leyens am 16. Juli zur Präsidentin der EU-Kommission „das Volk“ betrogen? Die Antwort ist: Nein. Denn welches Volk sollte gemeint sein?

Gut ein Jahr vor der Europawahl hatte der italienische Philosoph Roberto Esposito in einem Gastbeitrag für die Neue Zürcher Zeitung über die Nichtexistenz eines „europäischen Volkes“ festgehalten: „Denjenigen, die sich in den letzten Jahren – allen voran Jürgen Habermas – für die Einführung einer europäischen Verfassung ausgesprochen haben, ist zu Recht entgegnet worden, dass eine Verfassung zwingend Ausdruck eines souveränen Volkes und dessen freien Willens sein muss. Es stimmt zwar, dass ein Volk – wie Habermas seinen Kritikern erwiderte – nicht per definitionem gegeben sein muss. Ein Volk kann nämlich auch allmählich durch die Herausbildung einer bewussten Öffentlichkeit gleichsam erschaffen werden. Diese setzt jedoch wiederum, und darin liegt das Problem, transnationale, europäische Medien, aber vor allem eine gemeinsame Sprache voraus. Beide Voraussetzungen sind derzeit nicht gegeben.“

Das ist der wunde Punkt des Wunschdenkens, das auf „Vereinigte Staaten von Europa“ zielt: Eine demokratische Legitimation hätten diese nicht, eben auch wegen der Ermangelung einer EU-weiten öffentlichen Meinung, die prinzipiell jedem Bürger zugänglich ist, an der jeder gleichberechtigt teilhaben kann und die sich dann effektive Wirkung verschafft. In den Nationalstaaten, mit ihren historisch individuellen Kommunikationsgewohnheiten und Erfahrungen, hingegen lassen sich demokratische Prozesse realisieren.

Die Sprache scheint Dreh- und Angelpunkt auch im Nationenverständnis des französischen Schriftstellers und Historikers Ernest Renan (1823–1892) gewesen zu sein. Er geht nämlich davon aus, dass eine Nation der gemeinsamen Erinnerung an Schicksalsschläge, herausragende Figuren und kollektive Leistungen bedarf, der Verarbeitung kollektiver Erfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart. Das Bekenntnis zu einem Volk, das sich dann in Solidarität und politischem Handlungswillen sowie Handlungsfähigkeit niederschlägt, ist ohne solche identitätsstiftende Narrative nicht denkbar. Und diese sind auf die Muttersprache als Medium angewiesen.

„Das kontinuierliche Gespräch“

Um einen ähnlichen Gedanken kreist ein Kommentar der Journalistin und Vorsitzenden der Vlaams Fonds voor de Letteren (Flämische Stiftung für Literatur), Mia Doornaert, in der auflagenstarken belgischen Tageszeitung De Standaard vom 18. Juli. „Der europäische Bürger existiert nicht“, lautet die Überschrift, und einen der Kernsätze entlehnt sie dem holländischen Historiker Ernst Kossmann. Er „fasste die Idee der Nation wie folgt zusammen: ‚Das kontinuierliche Gespräch, das wir miteinander in unserer Sprache führen.’“

Doornaert, die 2003 aufgrund ihrer journalistischen Verdienste unter anderem als Korrespondentin im Nahen Osten geadelt wurde, sieht darin eine zutreffende Beschreibung, die nicht auf Ausgrenzung zielt, aber den Rahmen einer Integration absteckt.

Die studierte Philologin verdeutlicht mit Beispielen, was die Völker und Nationen Europas trennt und was sie verbindet. „Der Henker des einen, wie ‚unser’ Herzog von Alba [Statthalter der Niederlande im 16. Jahrhundert], ist der Held des anderen, in diesem Fall Spaniens. Man kann nicht zulassen, dass ‚Europa’ mit der politischen europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt, denn so verflacht man Jahrhunderte und Jahrtausende der Geschichte.“

Was die kulturelle Gemeinsamkeit vermag

Man brauche sich nur die Euro-Scheine vor Augen halten, um zu erkennen, „wie seltsam das Gerede über ‚Vereinigte Staaten von Europa’ ist“. Während zum Beispiel die US-Dollar-Scheine die Gründerväter wie George Washington und konkrete Gebäude wie das Weiße Haus zeigen, gebe es keine realen Personen oder Denkmäler auf den Euro-Noten, die als Symbole für die ganze EU akzeptiert würden. „Aber es gibt gemeinsame kulturelle Symbole, einen romanischen Bogen, ein gotisches Gewölbe, eine Barockfassade. Mit anderen Worten, es gibt ein europäisches Kulturalphabet, eine europäische Kultur. Es gibt aber keine europäische Nation.“

Genau das müssten alle, die sich zu „überzeugten Europäern“ erklären, vor Augen haben: Dass die Völker Europas in ihrer Vielfalt durch einen beständigen Austausch, durch das gegenseitige Durchdringen in Kunst und Kultur eine gemeinsame Basis und ein gemeinsames Erbe haben. Und dass dieser Reichtum das Fundament einer sinnvollen internationalen Zusammenarbeit nach Maßstäben des Subsidiaritätsprinzips sein muss.

Die angestrengte Diskussion um „Spitzenkandidaten“ und das Postengeschacher um die Spitzenämter hätten gezeigt, dass es den europäischen Bürger nicht gibt, meint Doornaert. Denn zum einen machten die Wähler von Litauen bis Portugal ihre Stimme kaum von den Spitzenkandidaten Weber und Timmermans abhängig, zum anderen ließen sich in den einzelnen Ländern ganz spezifische Akzentsetzungen ausmachen.

Mia Doornaerts Fazit: „Man sollte nicht nach einer europäischen Identität suchen, wo sie nicht ist, nämlich bei einem nicht existierenden europäischen Bürger. Sie existiert schon längst in der Welt der Literatur, der Wissenschaft und Kultur […]. Wenn jemals ein europäischer Bürger geschaffen werden soll, dann wird er nicht mit politischen Slogans kommen. Viel wichtiger ist eine Bildung, die das gemeinsame kulturelle Erbe Europas nicht über Bord wirft, sondern schätzt.“

Amelie Winther

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Japans Ministerpräsident Abe hat die Oberhauswahlen des 21. Juli gewonnen. Damit kann er seine Politik fortsetzen. Das betrifft vor allen Dingen den Umgang mit dem demografischen Wandel. Im Reich der aufgehenden Sonne setzt man auf Kompetenz und Technisierung, nicht auf Massenzuwanderung.

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HISTORIKER, SOZIOLOGE, AUTOR,
INVESTOR

Die vier Leben des Rainer Zitelmann. Seine Auffassungen und Ansichten sowie sein neues Buch „Die Kunst des erfolgreichen Lebens: Weisheiten aus zwei Jahrtausenden von Konfuzius bis Steve Jobs“.

EIN LANGES UND REICHES LEBEN

Vor 150 Jahren starb der Universalgelehrte und Maler Carl Gustav Carus. Er wird heute meist als Freund Caspar David Friedrichs wahrgenommen. Sein Werk aber bietet unendlich viel mehr Ansätze für eine Einordnung und Würdigung.

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