Nr. 30 vom 20.7.2018

Nr. 30 vom 20.7.2018

Standpunkt

Seehofer, der Prügelknabe

So demokratieverachtend ist der
„Populismus“-Vorwurf

Horst Seehofer hat eine schlechte Presse. Angeblich hat er den Regierungsparteien geschadet und der AfD genützt, indem er sein Anliegen, zumindest teilweise zur gesetzlich vorgesehenen Zurückweisung an der Grenze zurückzukehren, artikuliert und daran auch eine Zeitlang festgehalten hat. In Wahrheit sind unterschiedliche Positionen von Parteien für den Wähler das geringste Problem – im Gegensatz zum Zukleistern und Wegschminken möglicher politischer Alternativen, das in der letzten Legislaturperiode vorherrschte.

Was plötzlich konkret wurde

Und so stieß Seehofer mit seiner Forderung in der Bevölkerung zunächst auf breite Zustimmung. Aber je länger Merkel sich sperrte, desto offenkundiger wurde die vor dem Hintergrund des Mordes an Susanna Feldmann immer weniger Deutschen akzeptabel erscheinende Tatsache, in welchem Maße die deutschen Grenzen offenstehen. Bis zu Seehofers Aufbegehren wurde man ungläubig angesehen, wenn man erwähnte, dass jedermann ins Bundesgebiet einreisen kann, wenn er nur „Interesse an Schutz oder Asyl in Deutschland“ an den Tag legt. Das sei doch längst nicht mehr so, das war im Herbst 2015, hieß es dann. Die unverändert sperrangelweit offene deutsche Staatsgrenze war vielen Bürgern – auch durch die „Grenzkontrollen“, die diesen Namen kaum verdienen – nicht bewusst. Als Seehofer dann am 18. Juni enthüllte, dass bis dahin sogar hineingelassen wurde, wer ein Einreise- und Aufenthaltsverbot hat, trat sie plötzlich in der allergrößten Deutlichkeit vor Augen. Und die dann folgenden Verluste der Regierungsparteien in Umfragen erklären sich daraus, dass Merkel und die SPD es so wollen – und Seehofer es wegen Merkels eiserner Haltung nicht im Rahmen seiner Ressortkompetenz ändern kann.

Hoffen auf eine CSU-Niederlage

Obwohl niemand Geringerer als der ehemalige Bundesverfassungsgerichtspräsident Professor Hans-Jürgen Papier in einem gründlichen Gutachten für die FDP-Bundestagsfraktion darauf hingewiesen hat, dass das Asylgesetz im Einklang mit der Dublin-III-Verordnung grundsätzlich die Zurückweisung von Asylmigranten an der Grenze nicht nur zulässt, sondern gebietet, warf etwa „Die Zeit“ auf der Titelseite ihrer Ausgabe vom 12. Juli unter der Überschrift „Der Zauber der Populisten“ führenden CSU-Politikern im Zusammenhang mit dem „Seehofer-Aufstand“ eine „zwischenzeitliche Übernahme von AfD-Logik“ vor. Dies zeige, „wo die Bruchlinie verlaufen könnte, wenn die CSU nicht bald zur Vernunft kommt“. Die Lösung aus Sicht der Hamburger Wochenzeitung ist eine „knackige, heilsame Niederlage bei der bayerischen Landtagswahl“.

Wenige Tage später, am 16. Juli, warnte die „New York Times“ in dem Leitartikel „Denk nach, bevor Du ‚Populist‘ schreist“: „,Populismus‘ ist ein abschätziger Ausdruck für alles, das zu verstehen Großstadteliten nicht die Energie finden.“ New-York-Times-Autor Roger Cohen geht noch weiter: „Der Rückgriff auf das Etikett ‚Populist‘ ist gleichbedeutend mit Geringschätzung. Er spiegelt die überhebliche Sicht wider, dass die verblendete Plebs – der man selten persönlich begegnet – falsch liege. Er flirtet mit Demokratieverachtung.“

Der Fall Sami A.

Wenn Seehofer trotz des Unterliegens im Streit mit Merkel und trotz notdürftig moralisch verbrämter Vorwürfe größten Kalibers, die nun von allerlei Seiten gegen ihn erhoben werden, im Amt bleibt, kann man das – so jedenfalls die wohlmeinende Auslegung – mit der Absicht erklären, dass er Schlimmeres verhüten will. Wie man nun versucht, ihm aus der womöglich unrechtmäßigen Rückführung des Gefährders Sami A. einen Strick zu drehen, ist alles andere als überzeugend. Federführend bei dessen Abschiebung nach Tunesien war das Land Nordrhein-Westfalen. Aber vor allem unterstreicht der Fall, dass die Entscheidung in aller Regel an der Grenze fällt. Nach erfolgter Einreise bleibt Rückführung in den meisten Fällen Theorie.

Ulrich Wenck

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 20. Juli 2018

GETRÜBTER SIEG

Weltmeister Frankreich zeigt, dass eine multiethnische Mannschaft Erfolg haben kann. Vizeweltmeister Kroatien beweist, dass auch eine homogene Mannschaft Erfolg haben kann. Und noch am Abend des Finales offenbarten frankreichweit massive Ausschreitungen, dass der sportliche Triumph einer heterogenen Truppe keineswegs eine „gelingende“ multikulturelle Gesellschaft widerspiegelt.

EIN ANDERER SOZIALSTAAT,
EIN ANDERES VOLK

Jakob Augsteins „Spiegel online“-Kolumne firmiert unter dem Etikett „Im Zweifel links“. „Im Zweifel globalistisch“ passt jedoch besser, sieht man sich einen seiner jüngsten Texte an. In dem lässt er nämlich kaum Zweifel, dass er für ein grenzenloses Deutschland, in dem eine „neue Nation“ ihren Platz findet, den uns bekannten Sozialstaat aufgeben würde.

THERESA MAY – WIE LANGE NOCH?

Die Regierung in London hat ihre Vorstellungen zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union veröffentlicht. An diesem „Weißbuch“ hat sich der Streit entzündet, der zu den Aufsehen erregenden Rücktritten geführt hat. Die Regierungskrise spitzt sich zu.

ROTE KARTE FÜR „OSMANEN“

Die rockerähnliche Gruppierung „Osmanen Germania“ ist verboten worden. Innenminister Seehofer stützt diesen Schritt auf das Vereinsgesetz, da Zweck und Tätigkeit des türkischen Clubs den Strafgesetzen zuwiderliefen und von ihm eine „schwerwiegende Gefährdung“ für die Allgemeinheit ausgehe. Wofür stand der „Boxclub“, der über Beziehungen nach Ankara verfügte?

STREIT UM DEUTSCHE
ENERGIEPOLITIK

US-Präsident Donald Trump hatte die Bundesrepublik wegen ihrer Gasimportpolitik scharf angegriffen. Deutschland sei ein „Gefangener Russlands“, ja, es werde sogar „vollkommen durch Russland kontrolliert“. Wie er das gemeint hat, wer ihm in Deutschland die Mauer macht und wie es sich tatsächlich verhält.

IRRWEG DER EZB

Euro-Schuldenstaaten werden mit Unsummen über Wasser gehalten. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sieht einen Verstoß gegen das Verbot der Staatsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank. Doch wie wird in dieser Frage der Europäische Gerichtshof entscheiden?

PRIVATISIERUNG DER
WASSERWIRTSCHAFT?

Das am 17. Juli unterzeichnete Freihandelsabkommens zwischen der Europäischen Union und Japan, dem das EU-Parlament noch in diesem Jahr zustimmen soll, werde „europäischen Unternehmen Zugang zum bedeutenden japanischen Markt verschaffen“, versprechen EU-Institutionen. Schattenseiten und Risiken von JEFTA bleiben unerwähnt.

„… MEINE FEDER ALLZEIT
DEM FRIEDEN GEWEIHT“

Der ORF stellte Peter Rosegger im Jubiläumsjahr, da sich dessen Geburtstag zum 175. Mal und Todestag zum 100. Mal jährte, unter anderem als „kriegsbegeisterten“ Heimatdichter vor. Diese Sichtweise missachtet Roseggers Engagement für Bertha von Suttners Friedensbewegung und seine während des Ersten Weltkriegs immer wieder geäußerte Kriegskritik und Friedenssehnsucht.

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