Nr. 29 vom 12.7.2019

Nr. 29 vom 12.7.2019

Standpunkt

Ein sonderbarer Zufall

Die Medieninformation der sächsischen Landeswahlleiterin vom 5. Juli hatte es in sich:

„Für die Landtagswahl am 1. September 2019 hat der Landeswahlausschuss heute in öffentlicher Sitzung die Landeslisten von 19 Parteien zugelassen. ‚Über drei Stunden hat sich der Landeswahlausschuss in seiner heutigen Sitzung mit der Landesliste der AfD befasst‘, sagte Landeswahlleiterin Carolin Schreck nach der Sitzung. Die Landesliste der AfD wurde in 2 Versammlungen im Februar und im März 2019 aufgestellt. Der Ausschuss hatte zu entscheiden, ob dies als eine einheitliche Aufstellungsversammlung angesehen werden kann oder ob der Gesamtablauf für zwei getrennte Versammlungen spricht. Mit den anwesenden Vertretern der AfD wurde die Sach-und Rechtslage ausführlich diskutiert. ‚Letztlich stand für die Mitglieder des Ausschusses nicht sicher fest, dass es sich um eine einheitliche Versammlung gehandelt hat‘, erklärte Carolin Schreck weiter. Der Ausschuss hat daher entschieden, die Landesliste mit den Listenplätzen 1 bis 18, so wie sie in der ersten Mitgliederversammlung im Februar 2019 aufgestellt war, zur Landtagswahl zuzulassen.“

Die 43 im März aufgestellten Kandidaten auf den Listenplätzen 19 bis 61 waren damit gestrichen. Und das just in einer Situation, in der der AfD prognostiziert wurde, stärkste Partei zu werden, und in der sie die Aussicht auf rund ein Viertel der 120 Mandate im Sächsischen Landtag hatte.

Demokratische Grundsätze

Unstreitig und auch vom Sächsischen Wahlgesetz vorgeschrieben ist, dass das Aufstellungsverfahren der Parteien den elementaren demokratischen Grundsätzen entsprechen muss: Die Bewerber müssen in geheimer Wahl mit Stimmzetteln gewählt werden. Jeder stimmberechtigte Teilnehmer der Versammlung ist vorschlagsberechtigt. Den Bewerbern ist Gelegenheit zu geben, sich und ihr Programm der Versammlung vorzustellen.

Schwere Demokratieverstöße des Aufstellungsverfahrens können die demokratische Legitimation der staatlichen Wahl in Frage stellen, weswegen solche Wahlvorschläge im Wahlzulassungsverfahren zurückgewiesen werden müssen. Hingegen führt die bloße Nichteinhaltung oder Rechtswidrigkeit einer parteiinternen Satzungsbestimmung grundsätzlich nicht zur Zurückweisung eines Wahlvorschlags. Begründet wird dies mit der sonst eintretenden Rechtsunsicherheit.

Verklammerung beider Termine

Schon angesichts dieser Maßstäbe mutet das Argument „Letztlich stand für die Mitglieder des Ausschusses nicht sicher fest, dass es sich um eine einheitliche Versammlung gehandelt hat“ ungewöhnlich an. Nicht nur, dass Presseorgane schon unmittelbar nach der ersten Versammlung im Februar von der „Fortsetzung des Parteitages im März“ schrieben, also keinen Zweifel an der Einheitlichkeit des Vorgangs hatten. Auch die Tatsache, dass bei dem zweiten Termin da weitergemacht wurde, wo beim ersten aus Zeitgründen abgebrochen werden musste, nämlich bei Platz 19, spricht eine deutliche Sprache. Wenn es noch einer weiteren Verklammerung bedürfte, dann läge sie darin, dass bei dem zweiten Termin der zu Beginn des ersten gefasste Beschluss des Parteitags, insgesamt 61 Kandidaten für die Liste zu nominieren, getreulich umgesetzt wurde. Hier von zwei rechtlich unabhängigen Versammlungen auszugehen, die quasi nebeneinander agierten, ist nicht sonderlich lebensnah.

Die Tatsache, dass beim zweiten Termin – im selben Saal im vogtländischen Markneukirchen – eine andere Person als beim ersten die Versammlungsleitung innehatte, tritt demgegenüber zurück. Andernfalls hinge eine Partei von Kalender, Bereitschaft und Gesundheit eines einzigen Menschen ab, wenn eine Aufstellungsversammlung aus Zeitgründen an einem anderen Termin fortgesetzt werden muss.

Hintergrund der zeitlichen Bredouille war, dass sich die sächsische AfD für einen offenen Prozess entschieden hatte, in dem die Mitglieder tatsächlich die Möglichkeit haben, auf die Zusammensetzung der Liste Einfluss zu nehmen. Dies ist es ja, was materiell demokratische Legitimation herstellt. Hätte der Vorstand eine vorher im Hinterzimmer besprochene Liste durchgepeitscht, wäre man im ersten Termin fertiggeworden.

„Im Zweifel soll der Wähler entscheiden“

Selbst soweit für die Mitglieder des Landeswahlausschusses nun tatsächlich „nicht sicher feststand“, dass es sich um eine einheitliche Versammlung handelte, hätte der Grundsatz gegriffen, den Professor Wolfgang Schreiber in seinem Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag so formulierte: „Um unberechtigte Zurückweisungen und daraus resultierende Wahlanfechtungen zu vermeiden, ist in Zweifelsfällen eine Entscheidung zugunsten des Wahlvorschlagsträgers angezeigt.“ Es gehöre zu den Grundsätzen eines demokratischen Wahlrechts, der Wählerschaft die weitestgehende Möglichkeit zu sichern, ihrem staatsbürgerlichen Willen überzeugungsgemäß Ausdruck zu geben. „Mit anderen Worten“, fasste Schreiber zusammen, „im Zweifel soll der Wähler entscheiden“.

Der Beschluss des sächsischen Landeswahlausschusses, die Liste um die Kandidaten 19 bis 61 zu kürzen, nimmt dem Wähler diese Möglichkeit. Die AfD kann über die Liste nur 18 Kandidaten in den Landtag bringen, obwohl sie dort laut Umfragen auf etwa 30 Sitze käme.

Ulrich Wenck

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