Nr. 28 vom 5.7.2019

Nr. 28 vom 5.7.2019

Standpunkt

EU am Scheideweg:
Imperium oder Demokratie?

Dass es sich bei der Neubesetzung der Spitzenpositionen in der EU um ein „schwieriges Puzzle“ handelt, ist kein Zufall, sondern Ausdruck eines gravierenden Defizits. Am 2. Juli, dem dritten Tag des EU-Gipfels, der anberaumt worden war, um festzulegen, wer welchen Posten bekommt, gab Merkel in Brüssel die Parole „neue Kreativität“ aus. Am Abend stand fest: Kommissionspräsidentin wird Ursula von der Leyen – vorausgesetzt, das Europaparlament bestätigt sie mit absoluter Mehrheit. Dazu bedarf es einer Stimme mehr, als die Hälfte der Sitze in Straßburg ausmacht. EU-Ratspräsident wird der belgische Premier Charles Michel, neue EZB-Chefin die Französin Christine Lagarde, EU-Außenbeauftragter und damit Kommissions-Vize soll der Spanier Josep Borrell werden. Diese drei müssen sich keiner Wahl im Europaparlament stellen.

Das Tauziehen um die Spitzenposten der EU, um den neuen Kommissionspräsidenten, Parlamentspräsidenten, EU-Außenbeauftragten, Ratspräsidenten und EZB-Chef, und die Lager, die sich dabei gebildet haben, unterstrichen erneut, dass es keinen europaweiten, eindeutigen Wählerwillen gibt, an den sich der Rat gebunden fühlen muss. Eine öffentliche Meinung, die prinzipiell jedem zugänglich ist und die sich effektive Geltung verschaffen kann, gibt es auf europäischer Ebene schlicht nicht. Bedingt durch die unterschiedlichen Sprachen, Kulturen, Erfahrungen und Interessen der Völker ist auch nicht davon auszugehen, dass sich daran etwas ändern wird.

Spaltung seit 2015

Der Machtverlust Angela Merkels war bei dem Gezerre mit Händen zu greifen: Erst musste sie Manfred Weber (CSU) fallen lassen, gegen den Frankreichs Präsident Emmanuel Macron – wohl aus wirtschaftspolitischen Gründen – opponierte. Dann brachte sie mit ihrem mit Macron im Hinterzimmer ausgebrüteten Vorschlag, den Sozialdemokraten Frans Timmermans zum Kommissionspräsidenten zu machen, große Teile der christdemokratischen Parteienfamilie gegen sich auf. Und auch die Visegrád-Staaten rebellierten verständlicherweise; ihre Vorbehalte gegen Timmermans sind Ausdruck der Spaltung innerhalb der EU, die das Migrationsgeschehen seit 2015 herbeiführte.

Denn Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn halten das Recht auf nationale Selbstbestimmung hoch. Sie wollen nicht nur frei über ihren politischen Status entscheiden, sondern ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung auch künftig in Unabhängigkeit gestalten. Insbesondere sind sie nicht damit einverstanden, das Subjekt der Selbstbestimmung, das Volk, in einem schleichenden Prozess umzuwandeln – im Unterschied zu Teilen des bundesdeutschen politischen Personals, die sich über die „drastische Veränderung“ Deutschlands offen freuen.

Kommissionspräsidentin von der Leyen

Am Dienstag folgte der Vorschlag des amtierenden Ratsvorsitzenden Donald Tusk, Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) zur Chefin der EU-Kommission zu machen. Eine Frau mit viel Ehrgeiz und – auf ihr Fortkommen gerichteter – Energie, die es aber verstanden hat, in der Bundeswehr zur unbeliebtesten Person zu werden, die je das Verteidigungsministerium geleitet hat. Und dies, indem sie, wo es um ihre politische Verantwortung ging, die ihr unterstehende Truppe eines „Haltungsproblems“ bezichtigte. Qualifiziert man sich so für höhere Aufgaben in Brüssel? Etwa weil dort inhaltliche Beliebigkeit zum Anforderungsprofil gehört?

Eine Mehrheit der Bürger der EU-Staaten dürfte es sich nicht gewünscht haben, dass an die Spitze der Kommission jemand befördert wird, der auf nationaler Ebene in Ministerverantwortung von einer Krise in die nächste geschlittert ist und in keiner eine gute Figur abgegeben hat. Emmanuel Macron soll die wirtschaftspolitisch konturlose von der Leyen ins Spiel gebracht haben. Ein möglicher Grund: So geht der EZB-Posten an keinen Deutschen.

Eine Voraussetzung der Demokratie

Werden sich die Bürger der EU-Staaten durch ihre neuen Spitzenvertreter gut repräsentiert fühlen? Werden sie sich mit ihren Sorgen und Anliegen vertrauensvoll an diese wenden und bei ihnen damit ein offenes Ohr finden? Es ist mehr als unwahrscheinlich. Wer in Brüssel und Straßburg Gehör sucht, sollte schon über eine mächtige Lobby verfügen, einen Industriezweig oder zumindest einen großen multinationalen Konzern hinter sich wissen.

Das Ergebnis eines demokratischen Prozesses soll es sein, dass zum Ausdruck kommt, was die daran Beteiligten rechtlich, politisch und sozial verbindet. Wenn aber das gemeinsame Hauptmerkmal die Heterogenität ist, ist der demokratische Prozess materiell weitgehend delegitimiert. Denn er kann nichts zutage fördern, wo nichts ist.

Das ist zu einem großen Teil schon die Konsequenz der schieren Größe der EU mit ihren noch 28 Mitgliedstaaten und über 500 Millionen Einwohnern. Diese Überdehnung der supranationalen Organisation zieht es auch nach sich, dass die Haltungen der Völker und die Akzentsetzungen ihrer Staaten so unterschiedlich sind. Wer die EU zu „Vereinigten Staaten von Europa“ machen will, verkennt, dass ihre Bürger nicht das Maß an Homogenität aufweisen, das erforderlich ist, um einen Staat zu bilden. Und erst recht nicht jenes gesteigerte Maß an „vorrechtlicher Gleichartigkeit und relativer Homogenität“, das der jüngst verstorbene sozialdemokratische Verfassungsrechtler und frühere Bundesverfassungsrichter Professor Ernst-Wolfgang Böckenförde als gesellschaftliche „Voraussetzung der Demokratie“ ausgemacht hat.

Bereits das Brexit-Referendum vom Juni 2016 verdeutlichte die Zentrifugalkräfte, die auf die EU wirken. Das Europawahlergebnis vom Mai 2019 unterstrich, wie unterschiedlich die Prioritäten sind, die die Völker der EU-Staaten haben.

Weltordnung der Imperien

Obwohl nicht zuletzt die Überdehnung sie in die Lage geführt hat, in der Personalentscheidungen zu Tauschgeschäften werden und inhaltlich bestenfalls einen Konsens über den Dissens zum Ausdruck bringen, denkt die EU über neue Erweiterungen und eine noch engere „Integration“ nach. Wenn es stimmt, dass Imperien zur Ausdehnung ihrer selbst neigen, dass sie von extremen Spannungen zwischen ihren Teilen gekennzeichnet sind und die Distanz ihrer Leiter zum Volk ihrem Wesen entspricht, dann ist die EU in der von einigen ihrer Vertreter – am offensten von Guy Verhofstadt – postulierten Weltordnung der Imperien angekommen.

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 5. Juli 2019

„KEINERLEI ANREIZE SCHAFFEN“

Die Zahl der im Mittelmeer ertrinkenden Migranten ist seit 2016 um vier Fünftel gesunken. Wie kann dem Sterben Einhalt geboten werden? Die aktuelle Debatte um die „Sea-Watch 3“ jedenfalls hat auch moralisch gesehen viele blinde Flecken. Auch darum ist eine tragfähige Lösung der Krise nicht in Sicht.

DIE SPD AUF DER SUCHE

Den heutigen Zustand der SPD dokumentiert wohl nichts besser als das aufwendige Bewerbungsverfahren, das zu einer neuen Parteispitze führen soll. Ist es überhaupt möglich, die Sozialdemokraten aus der Krise zu holen?

ITALIENS EIGENER WEG

Mini-Bots und Goldverkäufe: Roms wirtschafts- und währungspolitische Gedanken sind legitim, ergibt sich aus einer viel beachteten Stellungnahme der Europäischen Zentralbank. Ein Erfolg für Rom im Konflikt mit der EU-Kommission in Brüssel.

SCHWARZ-BLAU IN DER DISKUSSION

Mit einer Ab- und Ausgrenzungshaltung will die CDU-Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer mit Blick auf die Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen eine politische Brandmauer gegen die AfD errichten. Doch die bröckelt.

EIN NICHT ERWÜNSCHTES ANLIEGEN?

Im Internet verbreitet sich ein Video mit Aussagen einer ehemaligen „Flüchtlingshelferin“ aus Niedersachsen. Sie erzählt, warum sie ihre ehrenamtliche Tätigkeit eingestellt hat. Um Leute wie sie kümmert sich die „Initiative an der Basis“, die mit dem „Anliegen, die Probleme in diesem Bereich zu benennen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen“, allerdings auf Widerstand stößt.

BRENNSTOFFZELLE STATT BATTERIE

Stromerzeugung durch Oxidation von Wasserstoff mit Sauerstoff: Große Automobilkonzerne forschen daran seit gut drei Jahrzehnten. Kann die E-Mobilität damit sauberer, effizienter, verbraucherfreundlicher und auch ökonomisch sinnvoller werden?

MIT LIED UND SEELE

Das Estnische Lieder- und Tanzfest, das nun 150. Jubiläum feierte, bildet das Rückgrat der estnischen Identität. Es spielte eine entscheidende Rolle bei der nationalen Selbstfindung, während der Okkupation und schließlich in der „Singenden Revolution 1989“. Seine Ursprünge standen auch unter deutschem Einfluss.

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