Nr. 28 vom 6.7.2018

Nr. 28 vom 6.7.2018

Standpunkt

Merkels Potemkin‘sches Dorf

Man kann Horst Seehofer nicht vorwerfen, sich nicht ins Zeug gelegt zu haben. Er ist nicht Thomas de Maizière, der einfach ausführte, was ihm die Kanzlerin auftrug. Aber Merkels erbitterter Widerstand hat dazu geführt, dass auch Seehofer sich mit seiner Forderung nach Zurückweisung an der Bundesgrenze von Migranten, die schon in anderen EU-Staaten als Asylbewerber registriert sind, nicht durchsetzen konnte.

Angela Merkel hatte zunächst auf dem Europäischen Rat vom 28./29. Juni 2018 ein Potemkin‘sches Dorf aus Absichtserklärungen und bereits geltenden, aber schon bisher nicht eingehaltenen Regeln errichtet, dies dann mit aus dem Jahr 2015 bekannten Vokabeln als „mehr Ordnung und Steuerung in der Migrationspolitik“ verkauft. Und Horst Seehofer sollte über das Stöckchen springen und erklären, diese Bekundungen seien wirkungsgleich mit Zurückweisungen an der Grenze.

Zu einem echten Kompromiss hingegen war Merkel nicht bereit. Selbst als Seehofer am Samstagabend im Kanzleramt den Minimalvorschlag machte, nicht alle Migranten zurückzuweisen, die bereits in anderen EU-Ländern registriert sind, sondern nur solche, bei denen das Asylverfahren schon läuft, soll Merkel abgelehnt haben. Und ebenso sein Angebot, Asylmigranten, die in Griechenland oder Spanien erstmals registriert wurden, von der Zurückzuweisung auszunehmen, weil mit diesen beiden Staaten bilaterale Vereinbarungen zur Wiederaufnahme ins Auge gefasst sind. Die Kanzlerin habe sich bei dem Gespräch, das Seehofer als „sinn- und wirkungslos“ bewertete, „null Komma null“ bewegt, stellte der Bundesinnenminister später fest.

Wirkungsgleich?

Seehofer war bereit, an der Wahrheit festzuhalten, dass die Fassaden, die Merkel auf dem Brüsseler Gipfel errichtet hatte und die sofort einzustürzen begannen (Polen, Ungarn und Tschechien traten umgehend der Darstellung entgegen, es seien Vereinbarungen über eine beschleunigte Rückführung von Migranten zustande gekommen), nicht wirkungsgleich waren. Während sich notorische Beschwichtiger wie der CSU-Vize und EU-Parlamentarier Manfred Weber beeindruckt gaben, vertrat Seehofer die Ansicht, Merkels Verhandlungsergebnisse führten zu „mehr Migration und nicht weniger“.

Dann kam der Moment, in dem Seehofer nach vielstündiger Sitzung am späten Sonntagabend seinen Rücktritt ankündigte. Man kann darin Taktik sehen. Aber wahrscheinlicher ist, dass er sich aus einer Situation befreien wollte, in der die Regierungschefin keine Konzessionen machte und weitere Aussprachen mit ihr vergebens erschienen. Weil aber nur wenige in der CSU Seehofer so abgeneigt sind wie sein Kurzzeit-Vorgänger Erwin Huber, der am Montag mit einer Rücktrittsforderung („unausweichlich“) herausplatzen sollte, bestürmten die erschrockenen Parteifreunde ihren Chef – und Seehofer ließ sich breitschlagen.

„Asylwende geschafft“?

Und so kam es am nächsten Tag, Montag, 2. Juli, zu dem Dokument „zur besseren Ordnung, Steuerung und Begrenzung der Sekundärmigration“, in dem es heißt:

„1. Wir vereinbaren an der deutsch-österreichischen Grenze ein neues Grenzregime, das sicherstellt, dass wir Asylbewerber, für deren Asylverfahren andere EU-Länder zuständig sind, an der Einreise hindern.

2. Wir richten dafür Transitzentren ein, aus denen die Asylbewerber direkt in die zuständigen Länder zurückgewiesen werden (Zurückweisung auf Grundlage einer Fiktion der Nichteinreise). Dafür wollen wir nicht unabgestimmt handeln, sondern mit den betroffenen Ländern Verwaltungsabkommen abschließen oder das Benehmen herstellen.

3. In den Fällen, in denen sich Länder Verwaltungsabkommen über die direkte Zurückweisung verweigern, findet die Zurückweisung an der deutsch-österreichischen Grenze auf Grundlage einer Vereinbarung mit der Republik Österreich statt.“

Zunächst lässt sich feststellen, dass das Wort „Zurückweisung“ dreimal vorkommt – ein Punkt für Seehofer –, aber schon mangels der angesprochenen Verwaltungsabkommen (sowie der Ungewissheit der mit dem Wort „Benehmen“ erhofften Mitwirkung) und der fehlenden Vereinbarung mit Wien finden bis auf weiteres keine Zurückweisungen statt. Die auf seinen Vorgänger de Maizière und den 13. September 2015 zurückgehende Weisungslage, wonach über sichere Drittstaaten anreisende Asylmigranten an der Bundesgrenze nicht zurückgewiesen werden, hätte der in § 18 Asylgesetz für zuständig erklärte Bundesinnenminister Seehofer hingegen im Rahmen seiner Ressortkompetenz durch eine neue Weisungslage ersetzen können. Die Behauptung von CSU-Generalsekretär Markus Blume, „die Asylwende geschafft zu haben“, ist also von den Tatsachen nicht gedeckt. Alexander Dobrindts auf Merkels Brüsseler Verhandlungsergebnisse gemünzter Satz „Es geht doch nicht darum, etwas aufs Papier zu schreiben, sondern auch, ob es umsetzbar ist“ – er trifft auch auf die Merkel-Seehofer-Vereinbarung vom 2. Juli zu.

Die Wendung „nicht zu Lasten Dritter“

Merkels Mantra in der Auseinandersetzung mit ihrem Innenminister lautete, sie wolle „nicht unilateral, nicht unabgestimmt und nicht zu Lasten Dritter“ handeln. Die Formulierung „nicht zu Lasten Dritter“ ist in dreierlei Hinsicht bemerkenswert:

Erstens, weil Merkel offenbar trotz allem, was schon geschehen ist, kein Problem damit hat, zu Lasten der eigenen Bürger zu entscheiden.

Zweitens, weil ihre Politik, auf die Menschen in diesem Land bezogen, ja nicht Merkel trifft, sondern komplett zu Lasten Dritter geht. Nur dass Merkel sich diesen „Dritten“, von denen Schaden abzuwenden sie geschworen hat, offenbar nicht verpflichtet fühlt. Im Unterschied zu Horst Seehofer verspürte sie keinen Impuls von der Art, man dürfe nach dem Mord an Susanna Feldmann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

Drittens, weil Merkel in diesem Punkt nicht logisch argumentiert: Unterbindet die Bundesrepublik an der Grenze die Sekundärmigration, also die Weiterwanderung, fällt in der Regel auch die entsprechende Primärmigration aus. Deutschland würde damit den Magneten abschalten. Das Ergebnis ist also keine Belastung, sondern eine Entlastung anderer EU-Staaten. Und die Zahl derjenigen, die in ihrer Heimat die Familie zurücklassen, das Haus, einen Hof oder ein kleines Gewerbe aufgeben, würde rasch sinken.

Merkel kommt es darauf aber wohl nicht an. In ihrer Regierungserklärung vom 28. Juni 2018 behauptete sie: „Die Asylzahlen in Deutschland sind zurückgegangen.“ Damit wird von ihr, wie von maßgeblichen Medien, so getan, als nehme die Zahl der Asylmigranten in der Bundesrepublik ab. In Wahrheit nimmt sie kontinuierlich zu, vor allem weil die Rückführungsmisere (2017 gab es 23.966 Abschiebungen, aber 186.644 neu als Asylsuchende Registrierte) anhält.

Dass Merkel sich letztlich wieder durchgesetzt hat, ist kein Kunststück, sondern Folge der ihr kraft Amtes gegebenen Macht. Und es lag auch nicht etwa an einem mangelnden Geschick Seehofers. Er konnte diesen Kampf aufgrund der Ausgangslage nicht gewinnen. Möglicherweise hat er aber etwas erreicht, indem das Merkel’sche „Ordnen und Steuern“, zunächst auf dem Papier, um das Element der „Begrenzung“ ergänzt wurde. Dass er und nicht ein anderer aus den Reihen der Großkoalitionäre Bundesinnenminister ist, kann man aufgrund seiner Akzentsetzung durchaus begrüßen. Aber manchmal wird Seehofer sich vielleicht selbst die Frage stellen, ob er als Minister und Koalitionspartner von Angela Merkel, die nach seiner auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung bekundeten Ansicht „nur wegen mir Kanzlerin“ ist, Teil der Lösung oder Teil des Problems ist. Das legen auch seine Rücktrittsabsichten nahe, deren Nichtverwirklichung nicht mit dem „Drehhofer“-Schlagwort abgetan werden kann, sondern Ausdruck des tiefen Dilemmas ist, in das Merkel mit ihrem von den „Verwerfungen“ im Lande nicht zu erschütternden Rigorismus auch den Vorsitzenden einer verbündeten Partei bedenkenlos bringt.

Ulrich Wenck

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 6. Juli 2018

MEHR DYNAMIK IN DER EU?

Nach 1998 und 2006 hat Österreich nun für das zweite Halbjahr 2018 wieder den Vorsitz im Rat der Europäischen Union übernommen. Was davon zu erwarten ist.

UNGELÖSTE PROBLEME

Alle zwei Jahre wird unter Federführung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung der Bericht „Bildung in Deutschland“ veröffentlicht. Jetzt liegen die neuen Erkenntnisse vor. Die Ausdünnung im ländlichen Raum und das Bildungsgefälle sind zwei der Themen.

GEGEN MISSACHTUNG GELTENDEN
RECHTS

Das Gutachten von Prof. Hans-Jürgen Papier, von 2002 bis 2010 Bundesverfassungsgerichtspräsident, tritt der Auffassung entgegen, die im deutschen Recht vorgesehene Verweigerung der Einreise über sichere Drittstaaten von Personen, die nicht über die notwendigen Grenzübertrittspapiere verfügen, verletze die Regeln der Dublin III-Verordnung.

BARGELDLOS

Auch in Deutschland kann seit neuestem mit der App „Google Pay“ bezahlen, wer über ein entsprechend ausgerüstetes Smartphone und die Visa- oder Mastercard einer kooperierenden Bank verfügt. Was bedeuten solche innovativen Zahlungsmöglichkeiten für die Zukunft des Bargelds?

NEUER BORGWARD?

Wiederauferstehung in China: Seit Ende Juni sind wieder Autos unter dem Namen „Borgward“ in Deutschland erhältlich. Was hinter der Neuauflage der deutschen Traditions- und Kultmarke steckt. Die Pläne und die Verbündeten des Borgward-Enkels Christian.

AUS DER TRAUM

Zwischen DFB-Zentrale und dem Ort des Fußball-Endspiels um den WM-Pokal 2018 liegen 2.500 Kilometer. „Eine gewisse Selbstherrlichkeit“ hatte Trainer Löw nach dem Scheitern seiner Mannschaft ausgemacht. An einen Rücktritt aber denkt er nicht.

TURNVATER JAHN – ALS NAMENSGEBER
UNTRAGBAR?

Die Bezirksverordnetenversammlung in Berlin-Pankow hat einen Antrag der Linkspartei angenommen, der behördliche Stellen dazu aufruft, die Namensgebung des örtlichen Sportparks einer „kritischen Überprüfung“ zu unterziehen. Die Anlage ist nach dem Sportpionier und frühen Demokraten Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) benannt.

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