Nr. 27 vom 28.6.2019

Nr. 27 vom 28.6.2019

Standpunkt

Pilger, Pilgerer, Pilgerster –
wirklich nur ein harmloser Fehler(er)?

Zeitungsleute wurden von Sprachkritikern wie dem legendären Dr. Gustav Wustmann (1844–1910) schon immer argwöhnisch betrachtet und nicht selten der Verhunzung des Deutschen geziehen. Wustmann aber diskutierte in seinem unter dem Titel „Allerhand Sprachdummheiten – Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen“ immer wieder aufgelegten „Hilfsbuch für alle, die sich öffentlich der deutschen Sprache bedienen“ noch relativ subtile Fragen, etwa ob es „ich gedenke sein“ oder „ich gedenke seiner“ heißen müsse (beides geht). Die Bild-Zeitung setzte hingegen am 21. Juni schlicht auf den Dativ und titelte im Netz: „Karl Lagerfeld (†85): Die Mode-Welt gedenkt ihm“. Man ruderte schließlich zurück und benannte den Beitrag neu: „Die Mode-Welt im Gedenken an Karl Lagerfeld (†85)“. Offenbar ist nicht jeder mit der vorsätzlichen oder fahrlässigen Schaffung einer neuen Sprache einverstanden, die sich an einem des Deutschen, wie wir es bisher kennen, nicht ansatzweise mächtigen Leser orientiert.

Aggressive Wortbildungen im Dienste der Polemik

Nun waren auch „Wortschatz und Syntax der BILD-Zeitung“ schon Gegenstand wissenschaftlicher Befassung. In der unter diesem Titel erschienenen germanistischen Doktorarbeit von Ekkehart Mittelberg aus dem Jahr 1966 etwa heißt es: „Man sollte annehmen, dass eine Zeitung sich bei der Gestaltung der auffälligen Schlagzeilen um eine gewisse Sprachhöhe bemüht. Auf jeden Fall dürfte man meinen, dass die Überschriften mit hellem Bewusstsein geformt werden. Wenn dagegen die BILD-Zeitung sich nicht selten zur Umgangssprache in der Schlagzeile entschließt, muss ein bestimmtes Prinzip dahinterstehen.“

Kein Zufall dürfte es also auch sein, dass die Bild-Zeitung in ihrer Ausgabe vom 21. Juni 2019 die Balkenüberschrift auf Seite 2 so formulierte: „Die peinlichen Putin-Pilgerer aus dem Bundestag“. Auch wenn die Wortbildung „Pilgerer“ nicht umgangssprachlich, sondern schlicht falsch ist. Ekkehart Mittelberg stellte zwar schon in den 60er-Jahren eine Vorliebe der „Bild“ für „das Suffix -er“ fest (und fand dafür zahlreiche Belege von „Er fliegt den Überschaller“ bis zu „diese DDR-Anerkenner“), aber ein zweites -er anzuhängen und aus dem deutschen Wort „Pilger“ das bisher unbekannte Wort „Pilgerer“ zu machen, ist noch einmal eine neue Qualität – die Tendenz jedoch bleibt dieselbe. „In allen Stoffbereichen trifft man auf weitere aggressive -er- und -ler-Bildungen, die sich bis zu bitterer Polemik steigern“, stellte der Germanist Mittelberg schon bei seiner Untersuchung der Bild-Zeitung des Jahrgangs 1964 fest. Nahm man jetzt also für das Mehr an Aggression und Polemik, das in „Pilgerer“ steckt, in Kauf, beim kritischen Leser selbst einen „peinlichen“ Eindruck zu hinterlassen?

Natürlich arbeiten bei der Bild-Zeitung nicht lauter Geistesheroen, die, jeweils von der sprachlich richtigen Form ausgehend, die Wörter und Sätze so weit vergröbern, bis sie das nötige Maß an Rohheit und Hetze verströmen. So mögen auch die „peinlichen Putin-Pilgerer“ nicht das Ergebnis einer bewussten Konstruktion sein, sondern aus dem Bauch des Schlagzeilen-Redakteurs kommen. Schließlich gilt auch hier das goethesche „Du gleichst dem Geist, den du begreifst“.

Warum die Kampagne?

Die Absicht des so falsch wie angriffig überschriebenen Artikels ist jedoch klar: Wer als Politiker der Bild-Zeitung nicht genehme Kontakte, sei es im Inland oder ins Ausland, unterhält, soll mit maximaler Anprangerung rechnen müssen. Sogar der Umstand, dass eine an der Reise teilnehmende Parlamentarierin nach einem Empfang stolperte und stürzte, ist offener Anlass zur Freude: „Ganz unbeschadet blieben die Abgeordneten nicht.“

Die rüde Kampagne rührt nicht allein von der Tatsache her, dass die Delegation nach Russland reiste, während der Unternehmensgrundsatz Nummer 3 der Axel Springer SE doch nur gebietet, Solidarität mit den Vereinigten Staaten von Amerika zu zeigen. Sie hängt auch damit zusammen, dass die Abordnung von dem Thüringer AfD-Bundestagsabgeordneten Dr. Robby Schlund geleitet wurde und dass dessen Kollegen, darunter Dr. Gregor Gysi und Jürgen Trittin, mit diesem Umstand parlamentarisch korrekt umgingen. Die deutsch-russischen Beziehungen sind allen Beteiligten offenbar so wichtig, dass keiner die Reise über parteipolitischen Streitereien platzen lassen wollte.

Das Vorhaben war der Öffentlichkeit auch keineswegs vorenthalten worden. Der Deutsche Bundestag hatte am 12. Juni folgende Pressemitteilung unter dem Titel „Die Deutsch-Russische Parlamentariergruppe zu Gesprächen nach Moskau und Kaluga“ herausgegeben: „Unter der Leitung des Vorsitzenden der Deutsch-Russischen Parlamentariergruppe, Robby Schlund (AfD), werden die Abgeordneten Doris Barnett (SPD), Michael Georg Link (FDP), Gregor Gysi (DIE LINKE), Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), Dr. Michael von Abercron (CDU/CSU) und Sylvia Pantel (CDU/CSU) vom 16. bis 21. Juni nach Russland reisen. Mit dem Ziel, einen offenen, kritischen Dialog zu führen, wird sich die Parlamentariergruppe in Moskau mit Parlamentariern der Duma sowie Oppositionsführern treffen. Im Mittelpunkt stehen Gespräche mit Abgeordneten, die Beziehungen zu Deutschland pflegen, sowie internationale Aspekte. Ferner wird ein Gespräch mit den vor Ort tätigen deutschen politischen Stiftungen stattfinden. Zur Pflege von Kontakten auch außerhalb Moskaus reist die Delegation nach Kaluga, wo im Gespräch mit Lokalpolitikern das friedliche Miteinander unterschiedlicher Kulturen erörtert werden soll. Weitere Programmschwerpunkte liegen auf der Bildung und auf dem kulturellen Austausch der beiden Länder.“

„Skandal-Reise“ – der Ton macht die Musik

Schon zu Beginn der Reise schlug die „Bild“ mehrfach zu. „Umstrittene Russland-Mission: AfD-Putin-Fan leitet Bundestagsreise“ und „Skandal-Reise: AfD-Politiker führt Trittin und Gysi durch Moskau“, hieß es da. In letzterem Beitrag wurde auch folgende Anschuldigung erhoben: „Nach BILD-Informationen plante Schlund die wesentlichen Termine – an der deutschen Botschaft vorbei – mit Kreml-Hilfe!“ Ein Vorwurf, den nicht zuletzt Gregor Gysi entschieden zurückwies: „Der gesamte Besuch war mit der Gruppe geplant, auch alle Besichtigungen, Besuche und Gespräche, die wir geführt haben. Außerdem bin ich der deutschen Botschaft für die Unterstützung dankbar.“

Was der „Skandal“ an der mit so viel Missgunst begleiteten Reise war, blieb letztlich das Geheimnis der Bild-Zeitung, die wieder einmal mit dem – wenn auch unsauber gestimmten – Ton die Musik machte.

Ulrich Wenck

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 28. Juni 2019

DIE ZWEI GESICHTER DES
DONALD TRUMP

US-Präsident Trump hat einen Vergeltungsschlag gegen den Iran nach dem Abschuss einer US-Drohne im letzten Moment abgesagt, verschärft aber die Sanktionen und äußert im nächsten Atemzug Vernichtungsdrohungen gegenüber Teheran. Die außenpolitischen „Falken“ in Washington haben ihr Ziel eines Krieges gegen den Iran noch lange nicht abgeschrieben.

LIEBLINGE DER MEDIEN?

Es gibt kaum eine Talkshow, in der kein Vertreter der „Grünen“ Platz nimmt, kaum eine bundesdeutsche Zeitschrift, die dem Parteivorsitzenden Robert Habeck nicht eine ausgiebige Plattform bietet. Woher kommt die fehlende Distanz vieler Medien die so effektiv zum Aufschwung der „Grünen“ beiträgt?

STREIT UM WINDENERGIE-
SONDERABGABE

Das Umweltbewusstsein nimmt bundesweit zu, die Akzeptanz der Windkraft aber sinkt. Wird nach der Atomenergie und der Kohleverstromung nun auch die Windkraft zum Auslaufmodell? Die Zeichen mehren sich, dass dem so sein könnte.

„ER SCHUF SIE ALS MANN UND FRAU“

In einem neuen Grundsatzpapier hat sich die Bildungskongregation des Vatikans zu Fragen der geschlechtlichen Identität geäußert und sich in diesem Zusammenhang auch mit der Gender-Ideologie auseinandergesetzt. Damit will sie einen Dialog anstoßen. Kann das gelingen?

FEHLER DER SPD

Thilo Sarrazin, der nach wie vor Mitglied der SPD ist, hat ein Gedankenspiel gewagt und aufgeschrieben, was er machen würde, wenn er an der Spitze der Partei stünde. Er ist davon überzeugt, dass die Priorität der Stammklientel der SPD gelten muss – denn die habe die Partei in den letzten Jahren bei großen Zukunftsthemen allein gelassen.

DEMOGRAFISCHE AUSSICHTEN

„Die ökonomische Wucht der Teilung Deutschlands in Bundesrepublik und DDR vor 70 Jahren wird bis heute völlig unterschätzt.“ So lautet der Eingangssatz einer aktuellen Untersuchung des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in Dresden. Die „Leuchtturmpolitik“ bedarf einer Ergänzung, um dem Bevölkerungsrückgang in Teilen des Ostens der Republik entgegenzuwirken.

ERFOLG FÜR DEN FRAUENFUSSBALL

Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft der Frauen hat bei der diesjährigen Weltmeisterschaft in Frankreich mit dem Einzug ins Viertelfinale ihr Mindestziel erreicht. Die Spielerinnen siegten aber vor allem dadurch, wie sie ihre Sportart repräsentierten.

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