Nr. 26 vom 21.6.2019

Nr. 26 vom 21.6.2019

Standpunkt

Europas unterschätzte Diversität

„Europa muss einige seiner grundlegenden Annahmen hinterfragen und seine Beziehungen zu den Großmächten dieser Welt überdenken“, meinte Bundespräsident Steinmeier am 16. Juni bei seiner Eröffnungsrede zu den Gesprächen in Kultaranta, der Sommerresidenz des finnischen Staatspräsidenten. Dass alle europäischen Staaten (zu denen angesichts der Tatsache, dass 77 Prozent der russischen Bevölkerung in Europa leben, auch Russland gehört) von unterschiedlichen Annahmen ausgehen und jeweils andere Beziehungen zu Großmächten pflegen, kam dabei jedoch etwas zu kurz.

Steinmeier begann mit den USA: „Oft wird vergessen, dass der Atlantizismus im 19. Jahrhundert, als die USA dem damals noch feudalistischen Europa ablehnend gegenüberstanden, kaum ausgeprägt war. Die starken transatlantischen Beziehungen von heute sind das Ergebnis zweier Weltkriege. Der Atlantizismus war eine amerikanische Schöpfung, die Europa unter beispiellosen Umständen gerettet und geschützt hat. Innerhalb des sich derzeit entfaltenden globalen Wettbewerbs, der vorrangig von den USA und China vorangetrieben wird, wird es zu einem Großteil an Europa sein, den Atlantizismus im ureigenen Interesse der Europäer wie auch der Amerikaner am Leben zu erhalten, so befremdlich einige Entwicklungen in Teilen der USA auch sein mögen.“ Inwieweit aber der Kriegseintritt der USA im Jahre 1917 Europa gerettet haben könnte, bliebe zu erörtern. Damit setzte Washington – in Ausübung einer schon 1904 von US-Präsident Theodore Roosevelt postulierten „internationalen Polizeigewalt“ – seinen Fuß nach Europa und verunmöglichte einen (infolge der militärischen Pattsituation) denkbaren Verständigungsfrieden.

Keine Normalisierung mit Russland?

„Kommen wir nun zu Russland“, entfaltete Steinmeier sein geopolitisches Szenario weiter: „Einige fürchten die Rückkehr zu dem, was sie als ‚business as usual‘ bezeichnen. Ich teile diese Sorge nicht. Ich glaube nicht, dass es mit dem künftigen Russland so etwas wie ‚business as usual‘ geben kann.“ Der andauernde Konflikt in der Ostukraine belaste „die Beziehungen weiterhin schwer, ebenso wie die Annexion der Krim“. Man könnte sich zum Beispiel fragen, warum die Annexion des Königreichs Hawaii im Jahr 1898 und dessen 1959 erfolgte Umwandlung in den 50. Bundesstaat der USA nicht dem „Atlantizismus“ entgegenstehen? Schließlich lässt sich das soeben von Altbundeskanzler Gerhard Schröder gebrauchte Argument „Die Krim ist altes russisches Territorium“ auf Hawaii nicht abwandeln.

„Europas eigener neuer konzeptioneller Ansatz im Hinblick auf Russland“ soll sich nach Steinmeiers Ansicht auch verstärkt mit den inneren Angelegenheiten Russlands befassen: „Wir sollten nicht stillschweigend billigen, dass der Raum zur freien Meinungsäußerung der russischen Zivilgesellschaft immer stärker eingeschränkt wird.“ Allerdings erinnerte Steinmeier – die geschichtlichen Lektionen waren ja auch überwältigend genug – daran, dass man nicht ohne weiteres in einen nicht nur souveränen, sondern auch mächtigen Staat interferieren kann: „Doch wir sollten uns – im Interesse einer funktionaleren Partnerschaft – stärker bewusst machen, dass unsere eigenen Fähigkeiten, Russland zu verändern, begrenzt sind.“

Kooperation braucht keine Blöcke

„Und schließlich China.“ Wir müssten „alle anerkennen, dass China uns einerseits näher rückt und sich doch gleichzeitig von uns entfernt“. China sei „in vielen Bereichen ein Partner“, doch „auch zunehmend ein Konkurrent und in einigen Bereichen sogar, wie es die Europäische Kommission kürzlich formuliert hat, ein ‚systemischer Rivale‘“. Steinmeier verkürzt an dieser Stelle die Perspektive auf eine „Dynamik zwischen den USA, China, Russland und Europa“ – und stellt die Frage: „Sind wir in der Lage, unseren Zusammenhalt als Europäische Union zu wahren angesichts einer sich abzeichnenden globalen Hightech-Konfrontation oder vor dem Hintergrund der verheißungsvollen Infrastrukturinvestitionen, die China einem 17+1-Format, das von seinen eigenen Interessen dominiert wird, verspricht?“

Damit nahm Frank-Walter Steinmeier Bezug auf das Gipfeltreffen von 17 europäischen Staaten (davon 12 EU-Mitglieder) und China in Dubrovnik im April. Doch was ist schlecht an Geschäfts- und Investitionsbeziehungen mit China, an denen auch europäische Staaten teilhaben, die nicht im EU-Club sind? Solche Beziehungen bedürfen eben nicht einer „immer engeren Union“, setzen auch keine schrankenlose Personenfreizügigkeit voraus, die in der EU zunehmende ökologische und kulturelle Schäden anrichtet und schon den Brexit wesentlich mitherbeigeführt hat.

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 21. Juni 2019

VOR DER LANDTAGSWAHL

Alle gegen einen war das Motto bei der Oberbürgermeisterwahl in Görlitz. Trotzdem erreichte AfD-Kandidat Sebastian Wippel fast 45 Prozent. Bei der sächsischen Landtagswahl am 1. September dürfte von seiner Partei und ihm persönlich ein noch deutlicheres Zeichen ausgehen.

DIE NÄCHSTE ERWEITERUNGSRUNDE

Ende vergangenen Monats empfahl die EU-Kommission die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien und Albanien. Doch die Zweifel werden lauter: Eignet sich der Zeitpunkt für eine Erweiterung der Union? Und muss man bei den beiden grundverschiedenen Balkanstaaten nicht differenzieren?

AUTOMATISCHE ERHÖHUNG?

Der Streit um die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geht weiter. Derzeit fließen jährlich Beiträge in Höhe von rund acht Milliarden Euro an ARD, ZDF und Deutschlandradio. Die Politik will nun ein Indexmodel, um sich die Debatten über steigende Gebühren zu ersparen.

GEFÄHRLICHER WIEDERHOLUNGSTÄTER

Bei der Aufklärung des Mordes an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke gibt es endlich Fortschritte. Die Ermittlungen richten sich gegen einen 45-Jährigen mit einschlägigen Vorstrafen. Was zum Schutz vor hochgefährlichen Tätern notwendig ist.

AFRIKAS SCHICKSALSFRAGE

1950 lebten 230 Millionen Menschen in Afrika, einhundert Jahre später, 2050 werden es 2,5 Milliarden sein. Das enorme Bevölkerungswachstum bedeutet eine große ökonomische und soziale Herausforderung. Dringender denn je scheint es, auf internationalem Parkett ehrliche Debatten über die Demografiepolitik der Staaten zu führen.

EINE KAUM BEKANNTE EU-AGENTUR

Zu den weniger bekannten EU-Institutionen gehört das „European Asylum Support Office“ (EASO), übersetzt „Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen“. Die Behörde soll zur Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems beitragen.

VERGESSENE NATURSCHÜTZER

Heute weiß die Menschheit, wie wichtig Moore sind. Über ihre entscheidende Rolle bei der Erhaltung des ökologischen Gleichgewichts sowie der Speicherung von Kohlendioxid – und wie sie besser und nachhaltiger genutzt werden können.

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