Nr. 23 vom 31.5.2019
Standpunkt
Es gibt keine europäische
öffentliche Meinung
Die Europawahl bewies einmal mehr, dass es keinen EU-weiten Wählerwillen gibt, dass die öffentlichen Meinungen in der EU und erst recht in ganz Europa sprachlich-kulturell voneinander getrennte Räume bilden. Wer sich von den EU-Wahlen ein Zeichen für „Vereinigte Staaten von Europa“ erhofft hat, muss nun, wenn er ehrlich ist, einräumen, dass das Gegenteil zutrifft. Die Völker setzten jeweils eigene Prioritäten.
In drei der vier bevölkerungsreichsten Staaten der EU gewannen EU-skeptische Parteien die Wahl: In Frankreich lag der Rassemblement National an der Spitze. in Italien die Lega, in Großbritannien die Brexit-Partei. In Polen, Tschechien und Ungarn wurden die regierenden Mitte-Rechts-Parteien gestärkt, die ebenfalls nicht für einen ausgeprägten EU-Integrationswillen bekannt sind.
Die Fraktion der „Grünen“/Freie Europäische Allianz wird im neuen Parlament 74 von insgesamt 751 Mandaten umfassen, 22 mehr als bislang. Der Zuwachs ergibt sich vor allem aus dem starken Abschneiden der „Grünen“ hierzulande, das nicht repräsentativ für die ganze EU ist. „Grüne“ EU-Abgeordnete aus Italien: Null. Bulgarien: Null. Estland: Null. Griechenland: Null. Kroatien: Null. Malta: Null. Polen: Null. Rumänien: Null. Slowakei: Null. Slowenien: Null. Ungarn: Null. Zypern: Null. Die „grüne Welle“ ist alles andere als ein flächendeckendes europäisches Phänomen.
Nicht einmal der Sinkflug der Sozialdemokraten, den man besonders in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich beobachten konnte, bildet eine EU-weite Konstante. Hier scheren vor allem die Niederlande aus, wo die sozialdemokratische Partij van de Arbeid um zehn Prozent zunahm und mit nun knapp 19 Prozent stärkste Kraft wurde.
Der PvdA-Politiker Frans Timmermans, trat als Spitzenkandidat der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) an mit dem Ziel, EU-Kommissionspräsident zu werden. Anscheinend animierte das hauptsächlich seine Landsleute, für die Sozialdemokraten zu stimmen. In Deutschland beeindruckte er kaum, sonst wären die SPD-Verluste nicht so erdrutschartig ausgefallen. Das ist ein Indiz dafür, dass es EU-weite Kandidaten nicht schaffen, länderübergreifend wirksam für sich und das Anliegen ihrer Partei/Fraktion zu werben.
Das Europaparlament wird also bunter als je zuvor und spiegelt damit die Vielfalt der Völker wider, die Europa ausmacht. Nach wie vor sind es die Nationalstaaten, in denen sich Demokratie leben und verwirklichen lässt. Hier ist ein fruchtbarer Austausch zwischen dem Volk und seinen Vertretern möglich. Eine prinzipiell jedem zugängliche öffentliche Meinung, die sich effektive Geltung verschaffen kann, ist denkbar nur im Rahmen nationaler Kommunikationsgewohnheiten und Präferenzen mit der Muttersprache als Medium.
Amelie Winther
Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 31. Mai 2019
KURZ UND UNNÖTIG
Wenn ein Bauteil nicht in Ordnung ist, kann man es ersetzen. Deshalb aber das ganze Gebäude zu sprengen, ist in der Regel unverhältnismäßig. Ist es in der Politik anders? Wie Sebastian Kurz in Wien seine Regierung zum Einsturz brachte.
NACH DEM SPD-DEBAKEL
AN DER WESER
Bremen war seit 1946 von der SPD regiert. Die Landtagswahl am 26. Mai bedeutet eine Zäsur in der Geschichte des kleinsten Bundeslandes, denn erstmals konnte die CDU die Sozialdemokraten überholen. Was bedeutet Rot-Rot-„Grün“ in der Hansestadt?
KEINE GEWALT!
Dass die AfD ihre zentrale Wahlfeier in Berlin kurzfristig hatte verlegen müssen, weil die Saalbetreiberin der ursprünglich angemieteten Lokalität massiv bedroht und eingeschüchtert worden war, wurde von Medien wie eine Alltagsbanalität vermeldet.
MEDIEN AUF DEM PRÜFSTAND
Medienwissenschaftler Professor Dr. Michael Haller untersucht in seiner neuen Studie „Zwischen ‚Flüchtlingskrise’ und ‚Migrationspakt’ – Mediale Lernprozesse auf dem Prüfstand“, inwieweit sich die auch von ihm kritisierte Berichterstattung zu Asyl und Migration seit 2016 verändert hat. Am Beispiel des Migrationspakts zeigt er, welche Medien fehlerhafte Herangehensweisen korrigiert haben und welche nicht.
WIE STEHT ES UM DIE
MEINUNGSFREIHEIT?
Meinungsfreiheit, wie sie Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert, stellt aus Sicht vieler Bürger den springenden Punkt der Demokratie dar. Umso alarmierender ist es, dass laut aktuellen Erkenntnissen des Instituts für Demoskopie Allensbach immer mehr Deutsche davon ausgehen, dass man zu bestimmten Themen im öffentlichen Raum lieber schweigt.
GEIER ÜBER ESSEN
Dem Stahl- und Technologiekonzern ThyssenKrupp will es einfach nicht gelingen, in ruhiges Fahrwasser zu gelangen. Die Fusion der Stahlsparte des Unternehmens mit dem indischen Tata-Konzern wurde verworfen. Droht nun die Aufspaltung des Traditionsunternehmens?
SOUVERÄNE GRENZEN
Der politisch schon totgeglaubte australische Premierminister Scott Morrison kann sich bei den Parlamentswahlen behaupten. Die migrationskritische Koalition bleibt stabil. Die sozialdemokratische Australian Labor Party (ALP), die Meinungsforscher in Führung gesehen hatten, ist geschlagen.