Nr. 22 vom 24.5.2019

Nr. 22 vom 24.5.2019

Standpunkt

So ließe sich wohl fast jede
Regierung dezimieren

Die jeweilige Phantasie anregende Angebote, eine entspannte Urlaubsatmosphäre, hochsommerliche Temperaturen, Alkohol und Red Bull, versteckte Videokameras und ein geeigneter Schnitt des Materials: Auf solche oder ähnliche – nämlich auf die Zielperson zugeschnittene – Weise dürften sich viele Regierungen auf der Welt dezimieren lassen.

Dass Heinz-Christian Strache im Juli 2017 auf Ibiza mit teils schleppenden Worten ein Wolkenkuckucksheim „errichtete“, wie er den Stand der FPÖ in den Medien verbessern könnte, dass er sich wichtigmachte, um seine Bedeutung nicht unbedingt nur auf der politischen Ebene herauszustreichen, dass er wirklichkeitsferne Vorstellungen artikulierte, wer in Zukunft Straßenbauaufträge bekommt – nämlich die erst noch zu gründende Firma der attraktiven „Russin“ und nicht mehr der STRABAG-Konzern seines Widersachers, des NEOS-Unterstützers Hans Peter Haselsteiner –, ist fraglos mehr als schlechter Stil.

Aber Strache war wohl Politiker genug, um spätestens, als er wieder nüchtern war, zu wissen, dass diese Phantasiegebäude zu keinem Zeitpunkt auch nur im Ansatz realisierbar waren. Das schon deshalb, weil öffentliche Aufträge auch in Österreich nach dem Vergaberecht kontrolliert und nicht freihändig erteilt werden. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen auf staatlicher und auf EU-Ebene machen die öffentlichen Vergabeverfahren und Zuschlagsentscheidungen so nachprüfbar und transparent, dass Ideen wie „Alle staatlichen Aufträge, die jetzt die Strabag kriegt, kriegt sie [also die „russische“ Gesprächspartnerin, Anm. d. Red.] dann“ von vornherein substanzlos waren – so ernst ihre Folgen nun auch sind.

Obwohl die Inhalte der rechtswidrigen Aufzeichnung nur als inakzeptabel eingestuft werden können und den Rückzug der Beteiligten von ihren politischen Ämtern nach sich ziehen mussten, kann man sich fragen, wieso Strache, einer seiner Stellvertreter, Johann Gudenus, und dessen aus Serbien stammende Ehefrau in diese Falle gegangen sind. Projektionen und Wunschvorstellungen – darunter die, dass aus dem vermeintlichen „Osten“ nur Positives zu erwarten sei – wurden offenbar zur Achillesferse, die sich ein bisher unbekannter, selbst keine Rücksicht auf das Gesetz kennender Gegner durch ein optimales Arrangement zunutze gemacht hat. Dass Strache seit Jahren einem hohen medialen und gesellschaftlichen Druck ausgesetzt war, mag es zudem begünstigt haben, dass er in einer Ibiza-Atmosphäre unter vermeintlichen Freunden dysfunktionale, selbstschädigende Verhaltensweisen an den Tag legte, die ihm im Sommer 2017 als Ventil dienen mochten und ihn nun politisch vernichteten. Wobei man nicht weiß, wie viele Leimruten ausgelegt wurden, bis bei Strache die Zunge so schwer und zugleich das Mundwerk so locker wurde, wie es in der von den Fallenstellern gemieteten Finca auf Ibiza der Fall war.

Wenn Medien ihre Rolle verfehlen

Die Schlussfolgerung der ÖVP, die türkis-blaue Koalition trotz des sofort fälligen und erfolgten Rückzugs der Beteiligten zu beenden, war nicht zwangsläufig. Aus den balearisch-alkoholischen Phantastereien vom Sommer 2017 kann man vielmehr recht deutlich darauf schließen, dass die österreichische Nationalratswahl im Oktober 2017 frei von russischer Einflussnahme stattfand. Das Potemkinsche Dorf, das Strache, Gudenus und ihre „russische“ Gesprächspartnerin, die „Oligarchennichte“, besprachen, hat ersichtlich keinerlei Einfluss auf die Österreichwahl gehabt.

Das Versagen derjenigen Medien, die nun das Video in Vollstreckung des Plans seiner Urheber in Verkehr brachten, liegt darin, dass sie in fast zwei Jahren von der Angelegenheit weder etwas mitbekommen hatten noch nun enthüllen können oder wollen, wer hinter der Videofalle steckt. Sie beschränkten sich darauf, die letzte Stufe des Plans der Fallensteller zu exekutieren – und zwar genau zu dem Zeitpunkt, der diesen am wirksamsten erschien, nämlich eine Woche vor der Europawahl. Solche Aufzeichnungen verbietende Vorschriften zum Schutz der Vertraulichkeit des nicht öffentlich gesprochenen Wortes und des persönlichen Lebensbereichs, deren Sinn darin liegt, das Persönlichkeitsrecht und die Privatsphäre zu wahren und flüchtige und unbedachte Lebensäußerungen nicht in eine jederzeit reproduzierbare Internetkonserve zu verwandeln, spielen für sie offenbar in diesem Fall keine nennenswerte Rolle.

Es ist auch keine Empörung über die Fallenstellerei zu erkennen. Dabei ist nicht nur das nun voraussichtlich bald Schule machende Mittel der Videofalle rechtswidrig, sondern auch das Vorgehen, mit dem Strache zu seinen ebenso naiven wie unanständigen Gedankenspielen verleitet wurde. Juristen kennen das Problem unter dem Stichwort „Agent Provocateur“ – eine Methode, die im Rechtsstaat nicht akzeptabel ist. Wenn ein behördlicher Lockspitzel einen Bürger zur Tat verleitet, schließt dies eine Bestrafung grundsätzlich aus. Ist es besser, wenn der weltanschauliche Gegner einen Politiker in privatem Rahmen zu verantwortungslosen Äußerungen provoziert und diese aufzeichnet? Aber die Früchte des verbotenen Baumes, nämlich die Beendigung der türkis-blauen Koalition in Wien, erschienen „Spiegel“ und „Süddeutscher Zeitung“ zu verlockend, um sie nicht mitzunehmen. Auf die Idee, das Videomaterial und den gesamten Sachverhalt einfach an die Strafverfolgungsbehörden zu übergeben, die dann herausdestillieren hätten können, inwieweit die in der Finca vor der freiheitlichen Regierungsbeteiligung gemachten Aussagen von Strache und Gudenus strafbar sind – wobei der gesamte Kontext zu würdigen gewesen wäre und nicht nur Ausschnitte –, kam man wohlweislich nicht. Schließlich hätte ein derartig objektiviertes Verfahren der Bombe einen erheblichen Teil ihrer Sprengkraft nehmen können.

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 24. Mai 2019

MEHR OPPOSITION

Das internationale Bündnis „Europa des gesunden Menschenverstands“ will nach der Europawahl in bisher nicht dagewesener Stärke die Debatten und Entscheidungsprozesse im EU-Parlament beleben. Welche Chancen und Herausforderungen erwarten die neue Fraktion?

VERANTWORTUNG

Auf dem neuen FPÖ-Chef und bisherigen Verkehrsminister Norbert Hofer, der für seine maßvolle Tonlage bekannt ist und bei der Bundespräsidentenwahl 2016 um ein Haar Staatsoberhaupt geworden wäre, ruhen nach der „Ibiza-Affäre“ manche Erwartungen. Wie geht es mit den Freiheitlichen und der Regierung in Österreich weiter?

ATTACKE AUS WASHINGTON

Die US-Regierung setzt auf die „Sicherung der Informations- und Kommunikationstechniken und die Versorgungskette“, um mit umfassenden Vollmachten gegen ausländische Telekommunikationsunternehmen vorzugehen. Der chinesische Konzern Huawei soll so ausgebremst werden. Doch es geht um weitaus mehr.

FOLGT JETZT BORIS JOHNSON?

Kurz vor der Europawahl hat die oppositionelle Labour-Party ihre Brexit-Verhandlungen mit der Regierung in London abgebrochen. Regierungschefin May wird zeitnah ihr Amt niederlegen. Politische Beobachter rechnen mit einem „Brexiteer“ als nächstem Tory-Chef.

IRAN-KRISE SPITZT SICH ZU

Die Lage rund um den Persischen Golf ist angespannt. US-Präsident Donald Trump will trotz martialischer Rhetorik wohl keinen Krieg mit dem Iran, lässt sich aber von den „Falken“ im Weißen Haus treiben. Auch deswegen wächst die Sorge vor einer „Kernschmelze“ im Nahen Osten.

HASSGESÄNGE NÄHER BETRACHTET

Der Verfassungsschutz in Sachsen befasst sich in seinem neuen Bericht auch mit linksextremen Musikern. Weil in diesem Zusammenhang ausdrücklich das vom Mainstream massiv geförderte „Wir sind mehr“-Konzert vom vergangenen September in Chemnitz erwähnt wird, ist die Aufregung groß.

EINE NEUE HYMNE?

Bodo Ramelow, Linken-Ministerpräsident von Thüringen, hätte gerne eine neue Nationalhymne. Doch die von ihm ins Spiel gebrachte „Kinderhymne“ von Bertolt Brecht kann kein Ersatz sein für das schwarz-rot-goldene Deutschlandlied. Auch in der Hymne sind Einigkeit und Recht und Freiheit alternativlos.

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