Nr. 15 vom 6.4.2018
Standpunkt
Nicht nur zur Unzeit
Die Probleme Leipzigs und die „Probleme“ von Presseorganen wie „Die Zeit“ mit Leipzig haben wenig miteinander zu tun. Nicht einmal die Brandkatastrophe vom 29. März 2018 (eine Tote, ein Schwerstverletzter, fünfzehn Menschen, die Brandwunden, Rauchvergiftungen oder Knochenbrüche erlitten hatten, und nun Obdachlose zwischen acht Monaten und 79 Jahren) hielt die Hamburger Wochenzeitung davon ab, am 1. April ihr Gegreine über Leipzig und „den Osten“ ins Netz zu stellen. Eine Flut von Leserkommentaren war die Folge dieser Rohheit. Beispiel: „Ich halte mich besuchsweise über Ostern in Leipzig auf und das Thema, über das hier jeder heute spricht, wird in dem Artikel nicht mit einem einzigen Wort erwähnt.“ Es passt ja auch nicht in die – immer gleiche – Stoßrichtung.
Noch während Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft Leipzig und Rechtsmedizin an der zweifelsfreien Identifizierung der Frauenleiche, die in dem ausgebrannten Haus Wurzner Straße 111 im Leipziger Ortsteil Volkmarsdorf gefunden worden war, arbeiteten, wuchtete „Die Zeit“ am Ostersonntag ihren Anti-Leipzig-Beitrag „Das laute Schweigen“ ins Netz. Offenbar sagte sich dort niemand, dass es zumindest der falsche Zeitpunkt für eine solche Polemik gegen eine Stadt wäre. Wer sich nun über die Vorgänge in Leipzig informieren wollte, stieß prominent auf diese Anklage.
Auch die Identität des Schwerstverletzten im Krankenhaus war zu diesem Zeitpunkt noch ungeklärt. Immerhin hatte die Staatsanwaltschaft Leipzig bereits am Samstagnachmittag einen Haftbefehl gegen einen 32-jährigen Syrer, einen Bewohner des Hauses, erwirkt (Tatvorwurf: Mord, versuchter Mord und besonders schwere Brandstiftung). Und der Bürgerverein für den angrenzenden Stadtteil Schönefeld organisierte die Nachbarschaftshilfe für die lebendig und ohne schwere Verletzungen herausgekommenen Bewohner der in Flammen aufgegangenen Wohnungen. So wie zuvor 120 Feuerwehrleute alles daran gesetzt hatten, noch Schlimmeres zu verhüten. Das Gründerzeitgebäude, erfasst in der Denkmalliste des Landesamts für Denkmalpflege Sachsen, ist gleichwohl so schwer beschädigt, dass die Standfestigkeit in Frage stand.
Zu Text geronnene Larmoyanz
„Zeit“-Autor Michael Kraske (1972 in Iserlohn geboren, Anfang der 1990er-Jahre nach Leipzig gezogen) diagnostiziert, dass „sich im Osten etwas verändert hat“. Immer öfter stelle er sich die Frage: „Wie halte ich es aus? Und vor allem: Wie lange noch? Es geht dabei nicht nur um Pegida, aber auch darum. Es geht um alles, letztlich.“
Larmoyanz und Überhebung, aus denen eine „Story“ werden sollte, klingen in diesen Tagen besonders unpassend: „Das laute Schweigen macht mich fertig. Mein Gefühl ist, dass sich die kategorische Trennung in ‚wir‘ und ‚die‘, für die anfangs vor allem Pegida stand, seit der Flüchtlingsfrage nicht nur verschärft hat, sondern dass Pegida-Befürworter immer unverhohlener auftreten, auch in Leipzig, meiner Stadt, die ich stets für wenig anfällig gehalten hatte. Auch den Wahlerfolg der AfD in Sachsen bei der Bundestagswahl halte ich für den Ausdruck einer Radikalisierung.“
Überall werde „Verständnis gezeigt für AfD-Wähler“, auch von Kollegen. „Wo ich auch hinhöre: Es rumort. Freunde, Bekannte erzählen mir, wie unversöhnlich in ihrer Familie über Flüchtlinge gestritten wird.“ Als ob daran die schuld wären, die sich über die im Gesetz nicht vorgesehene Merkel-Politik der für jedermann offenen Bundesgrenze nicht eins werden können – trotz des Talents vieler Bürger, die Eingebungen der Obrigkeit für etwas Höheres zu halten.
„Von jenen umgeben“
Laut der jüngsten Ausgabe des „Sachsen-Monitor“ (Institut dimap), klagt Kraske weiter, sähe eine Mehrheit der Einheimischen das Land inzwischen als „in gefährlichem Maß überfremdet“ an. Zu dem Sachsen-Bashing mischt sich ein anderer Baustein, der, in Variationen freilich, zurzeit im Mainstream-Journalismus Konjunktur hat: „Worin genau aber die sächsisch-deutsche Lebensweise bestehen soll, die ständig beschworen wird, hat mir noch niemand erklären können.“
Im „Spiegel“ vom 31. März 2018 belehrt der Journalist Michael Graupner seinen ehemaligen Lehrer, der ihn einst an einem brandenburgischen Gymnasium „zum kritischen Denken animiert“ habe, sich nun aber auf „populistischen Unsinn“ verlasse, mit einer nicht unähnlichen Auslassung: „Was ist denn schon die deutsche Kultur? Wir haben doch höchstens die Sprache gemeinsam, von Schleswig-Holstein bis Südtirol!“ Der Beitrag ist in ebenso verzweifeltem Duktus gehalten wie die Leipzig-Anklage von „Zeit“-Autor Kraske.
Letzterer geht am Ende zum Frontalangriff auf die Stadt über, in der er lebt: „Aber erstens war es nie redlich, sich in Leipzig vor dem Rest Sachsens in Sicherheit zu wähnen. Und zweitens war es nur die halbe Wahrheit. Ich weiß inzwischen, dass ich auch hier, in meiner neuen Heimatstadt, von jenen umgeben bin, von denen ich lange dachte, es gäbe sie nur anderswo.“
Könnte es nicht auch so sein?
Dass sich weniger die Einheimischen (im Falle Kraske), seien sie nun Leipziger, Sachsen oder wer auch immer, oder der bekannt kritisch denkende Lehrer (im Falle Graupner) verändert haben, als die Situation, in der sie leben – darauf scheint man in den Redaktionen kaum zu kommen.
Wenn der Lehrer dem „Spiegel“-Mann Graupner berichtet, seine Schwester, im selben Beruf tätig, unterrichte „Klassen mit einem Anteil an Schülern mit einem Migrationshintergrund von 80 Prozent“, lässt das den Journalisten erkennbar kalt oder gilt ihm als eines dieser populistischen „Märchen“.
Und „Zeit“-Autor Kraske vermisst den Willen, „seine Heimat mit in die Zukunft zu nehmen“. Aber wer will seine Heimat schon in eine Zukunft nehmen, für die die Leipziger Eisenbahnstraße – zu der die Wurzner Straße parallel verläuft – ein bundesweites Symbol geworden ist?
Ulrich Wenck
Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 6. April 2018
AUSSCHEREN AUS DER
ANTI-RUSSLAND-PHALANX
Die EU nutzt die Causa Skripal, um einerseits Moskau als angeblichen Drahtzieher des Attentats an den Pranger zu stellen und andererseits an die „Solidarität“ der Mitgliedstaaten zu appellieren – diese sollen russische Diplomaten ausweisen. Neben Slowenien und der Slowakei weigert sich auch Österreich, dieser Erwartung nachzukommen – zum Ärger mancher bundesdeutscher Politiker.
DER MORD AN MIREILLE KNOLL
Nach dem grausamen Mord an der 85-jährigen Mireille Knoll in Paris ist nicht nur in Frankreich das Entsetzen groß. Dass der Antisemitismus, den man bei dem 28-jährigen Hauptverdächtigen mit nordafrikanischen Wurzeln als Tatmotiv vermutet, keine „nationale Krankheit“ ist, die „die Franzosen“ befallen hätte, sondern ein Sonderphänomen, wird sehr zurückhaltend diskutiert. Lehren werden nicht konsequent gezogen, um nicht die Weichen (namentlich an der Grenze) umstellen zu müssen.
HOFFNUNGEN IN ITALIEN
Warum das Störfeuer gegen eine Einigung der „Populisten“ so stark ist – und wie ein Merkel-Berater dabei mitmischt. Eine Analyse von Dott. Angelo Fedeli.
SICHERHEIT IM ÖFFENTLICHEN RAUM
In Berlin will eine parteiübergreifende Initiative um den früheren Bezirksbürgermeister von Neukölln, Heinz Buschkowsky, an gefährdeten Orten intelligente Videosysteme installieren: Die Kameras sollen erkennen können, wenn eine Tat begangen wird, und sofort Sicherheitskräfte alarmieren, die wiederum sogar aus der Ferne Möglichkeiten zum Eingreifen haben. Lässt sich so die Kriminalität in der Hauptstadt wirksam bekämpfen?
NOTBREMSEN
Uwe Brandl, Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, und dessen Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg haben Verständnis für Delmenhorst, Freiberg, Cottbus, Pirmasens und weitere Städte: „Wenn die Belastungen objektiv zu groß sind, sollte man einen Zuzugsstopp verhängen.“
NONKONFORMER DENKER
Rüdiger Safranski, der in den vergangenen zweieinhalb Jahren immer wieder die Merkel’sche Willkommenspolitik fundiert kritisierte, denkt weiterhin nicht daran, dem „Mainstream“ das Wort zu reden. In einem erneut bemerkenswerten Interview teilte der Philosoph diesmal dem „Spiegel“ seine Meinung über Konservatismus, Alexander Gauland und Hetze gegen die AfD mit.
SCHIFFE VERSENKEN AUF DEM
GRAUEN KAPITALMARKT
Hohe Renditeversprechen, hohe Risiken. Die Insolvenz des Containerfinanzierers P&R könnte zum größten Anlageskandal der Nachkriegsgeschichte werden.
MEHR ODER WENIGER UNFÄLLE?
Gegen selbstfahrende Autos gibt es weitverbreitete Vorbehalte. Wie berechtigt sind sie wirklich? Was Experten von der neuen Technologie halten.
VERFASSUNGSTAG
Von 1923 bis 1932 feierte die Weimarer Republik am 11. August den Verfassungstag. Edwin Redslob, der als Reichskunstwart für die Feierlichkeiten verantwortlich war, ging es darum, „eine Verbindung der Regierung und ihrer Gäste mit der Gesamtheit des Volkes“ zu schaffen, eine „Form gemeinsamen Bekenntnisses zum Aufbau des neuen Staates“ zu gestalten. Musikalischen Ausdruck fand dies in Werner Gneists Lied „Uns ward das Los gegeben, ein freies Volk zu sein“.