Nr. 15 vom 5.4.2019

Nr. 15 vom 5.4.2019

Standpunkt

Verrat an Europa

Was man derzeit nicht alles von angeblich guten Europäern an zutiefst antieuropäischen Tiraden hört! „Ich kann die Engländer nicht mehr sehen“, „Wenn im Fernsehen die Visage von der May kommt, schalte ich sofort weg“, „Wie peinlich ist doch dieses Parlament in London; nicht einmal Tische haben sie da!“ oder „In England arbeiten sowieso nur die Migranten“, schallt es von den Stammtischen der politischen Freunde von Merkel und Juncker, Barnier und Tusk. Und wer sich ob des Niveaus nicht gleich wieder abwendet, der bekommt auch aggressive Phantasien zu hören, nicht nur, man solle diese Engländer „sofort aus der EU schmeißen“. In den Kommentarspalten der angeblich liberalen Wochenzeitung „der Freitag“ sind die Inselbewohner einfach mal die „Durchgeknallten“, so dass man eigentlich konstatieren müsse: „Gut das man die Scheißbriten los ist!“ Auch richtig geschrieben („Gut, dass …“) wäre die Aussage nicht akzeptabler.

Mangel an Respekt und Wissen

Ein anständiger Europäer aber wird immer den Respekt aufbringen, den der Deutschlandkenner und ehemalige britische Lordkanzler Richard Haldane 1925 in seinem Vorwort zu dem schönen Büchlein „How Britain is governed“ von Kate Rosenberg anmahnte: „Unsere ungeschriebene Verfassung ist für einen Ausländer schwer zu verstehen, weil er nur selten über das erforderliche historische und lokale Wissen verfügt.“ Sie habe sich im Laufe der Zeit allmählich entwickelt und sei nichtsdestoweniger real. Einige Kenntnisse über die Ären der Tudors (die England von 1485 bis 1603 regierten) und der Stuarts (von 1603 bis 1714) seien schon vonnöten, um das politische System Großbritanniens „properly“ zu verstehen.

Also erst einmal ausgiebig lernen, dann – vielleicht – urteilen! Und in diesem Zuge könnte man sich auch einmal mit der langen Rhetorikkultur Großbritanniens auseinandersetzen, statt sich darüber zu echauffieren, dass die Abgeordneten im Unterhaus sich nicht hinter Tischen verschanzen.

Auf der Tiefflughöhe mancher aktueller Äußerungen wirkt eine Diskussion natürlich eher überflüssig, aber wo nicht nur das – leider medial geschürte – Ressentiment regiert, sollte man als Deutscher mit europäischem Bewusstsein zuweilen schon die Stimme erheben. Dann muss man allerdings mit einer sonderbaren Frage aus demselben Mund rechnen, der sich gerade noch an den Briten verging: „Sind Sie etwa nicht für Europa?“ Doch, doch, natürlich bin ich für Europa, wenn auch bei weitem nicht für alles, was die EU tut und anstrebt. Das Gegenüber schaut verdutzt und fragt, was denn da der Unterschied sei. Mit so viel Ignoranz hatte ich tatsächlich nicht gerechnet – und beschränke mich auf die Antwort: Zum Beispiel gut fünf Millionen Quadratkilometer!

Europäische Vielfalt

Ja, Europa, obwohl der zweitkleinste Erdteil, umfasst 9,8 Millionen Quadratkilometer; die Oberfläche der EU – einschließlich ihrer außereuropäischen Gebiete – beläuft sich auf derzeit knapp 4,5 Millionen Quadratkilometer (wenn Großbritannien die EU verlässt, sind es noch gut 4,2). Und London, Bath und Shakespeares Heimat Stratford-on-Avon bleiben – mit und ohne Brexit – ein Teil Europas wie Bern und Vaduz, Oslo und Reykjavik, Kiew, Minsk und Moskau. Man ist die Briten zum Glück nicht los!

Auf einem anderen Blatt steht, was à la longue mit der EU wird. Sie wäre jedenfalls gut beraten, alles Abstrafen und Schimpfen hinter sich zu lassen, das nur unsympathisch macht und von nicht wenigen als neuer Beleg für die These angesehen wird, Brüssel habe sich für eine Politik des Imperiums entschieden.

Ulrich Wenck

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 5. April 2019

WEBER: WER IST DAS EIGENTLICH?

Manfred Weber steht als EVP-Spitzenkandidat vor dem Höhepunkt seiner sorgsam geplanten politischen Karriere. Sein Wahlkampf bestätigt den Verdacht, dass es sich bei ihm um einen „Eurokraten-Hardliner“ handelt. Weber ist in jedem Fall ein Grund mehr, am 26. Mai zur Europawahl zu gehen.

DISKUSSION UM FLÜCHTLINGSRÄTE

Ungewohnt deutliche Kritik an der Asylpolitik wurde kürzlich aus dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) laut. Dessen Präsident Hans-Eckhard Sommer beklagte die weiterhin hohen Asylbewerberzahlen und setzte sich mit Flüchtlingshelfern auseinander, die abgelehnte Asylbewerber über bevorstehende Rückführungen informieren.

SATO UND ATLANTISCHES DREIECK

Bei einem Treffen mit seinem brasilianischen Amtskollegen Jair Bolsonaro am 19. März in Washington dachte Donald Trump laut über die Aufnahme Brasiliens in die NATO nach. Wie US-Außenpolitikstrategen mit alten – Stichwort SATO – und neuen Konzepten Lateinamerika kontrollieren wollen.

ORBÁNS KRONPRINZESSIN

Katalin Novák, das Gesicht der jungen Generation in der Fidesz-Partei, soll die Attacken der EVP parieren. Als Staatssekretärin für Familienpolitik prägt sie derzeit eine Kinder- und Geburtenpolitik, die diesen Namen tatsächlich verdient. Ungarns Ministerpräsident arbeitet mit seiner möglichen Nachfolgerin Hand in Hand.

CLAN-KRIMINALITÄT ALS ZDF-THEMA

Zur besten Sendezeit um 20:15 Uhr wurde am 25. März der ZDF-Krimi „Gegen die Angst“ im Fernsehen ausgestrahlt. Darin muss sich eine engagierte Staatsanwältin in Berlin mit dem Treiben einer auffälligen arabischen Großfamilie auseinandersetzen. Die Einschaltquote war enorm.

SPD-RELOTIUS VON DER HAVEL

Falsche Wohnanschrift, falsche Freundin: Die SPD in Brandenburg hat sich von einem Aufschneider aus den eigenen Reihen blenden lassen und ihn zum Spitzenkandidaten für die anstehende Europawahl gekürt. Der Fall Simon Vaut.

EINE OBERGRENZE FÜR DEN WOLF?

Die Erfolgsgeschichte der Rückkehr des Wolfes in Deutschland setzt sich noch ungebremst fort. Allerdings wird das Raubtier angesichts seines schnell steigenden Bestandes mittlerweile auch immer öfter als Gefahr wahrgenommen. Der Wolf wird Wahlkampfthema. Forderungen nach einer „Obergrenze“ liegen bereits auf dem Tisch.

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