Nr. 11 vom 9.3.2018

Nr. 11 vom 9.3.2018

Standpunkt

„Der Spiegel“ und
„die Reichswehr im Ersten Weltkrieg“

Der stellvertretende „Spiegel“-Chefredakteur Dirk Kurbjuweit hat eine neue Probe seiner Kunst gegeben. Im elektronisch versandten und auf spiegel.de verbreiteten „Morning Briefing“ seines Mediums vom 1. März 2018 finden sich – aus Anlass des 100. Jahrestags der Veröffentlichung der ersten DIN-Norm – folgende zwei Absätze:

„Nullachtfünfzehn steht bis heute für das Unzulängliche, das Schlampige. Der Begriff leitet sich ab vom Maschinengewehr 08/15, mit dem die Reichswehr im Ersten Weltkrieg schoss. Offenbar war es nicht gerade zuverlässig.

Für dieses Maschinengewehr, lerne ich aus der ‚Süddeutschen Zeitung‘, wurde ein spezieller Kegelstift entwickelt, und für den galt dann die erste Industrienorm überhaupt. Vor genau 100 Jahren trat sie in Kraft, ‚DIN 1 – Kegelstifte‘. Seitdem geht’s hierzulande ordentlich und übersichtlich zu.“

Faktencheck – Satz für Satz

Das sind sechs Sätze, die der Reihe nach durchzugehen sich lohnt:

„Nullachtfünfzehn steht bis heute für das Unzulängliche, das Schlampige.“

Wenn Sie zu jenen gehören, die unter „nullachtfünfzehn“ etwas anderes (nämlich: Durchschnitt, gewohntes Schema, das Übliche, das bis zum Überdruss Wiederholte) verstehen, sind Sie in guter Gesellschaft, denn auch der Duden kennt – in Übereinstimmung mit anderen Nachschlagewerken – nur folgende Bedeutung des Ausdrucks: „bar jeglicher Originalität, persönlichen Note; auf ein alltäglich gewordenes Muster festgelegt und deshalb Langeweile oder Überdruss erzeugend“.

„Der Begriff leitet sich ab vom Maschinengewehr 08/15, mit dem die Reichswehr im Ersten Weltkrieg schoss.“

Schwer möglich, denn die Reichswehr entstand erst nach dem Ersten Weltkrieg und erhielt ihren Namen durch das Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 6. März 1919. Das Wehrgesetz vom 23. März 1921 bestimmte dann endgültig die Reichswehr zur Armee der Weimarer Republik. Der Name war nicht nur Schall und Rauch, sondern brachte zum Ausdruck, dass die Reichswehr – im Unterschied zur „alten Armee“ im kaiserlichen Deutschland, deren Heer sich aus Truppen der deutschen Bundesstaaten zusammensetzte – von vornherein als Streitmacht des Reiches errichtet wurde.

„Offenbar war es nicht gerade zuverlässig.“

Sonderbar nur, dass das MG 08/15, das auf eine Konstruktion des Amerikaners Hiram Stevens Maxim zurückgeht, in der Literatur als „dieses zuverlässige, aber plumpe Maschinengewehr“ beschrieben wird (vgl. Illustriertes Lexikon der Waffen im 1. und 2. Weltkrieg, Utting 2001, S. 174). Das ändert natürlich nichts daran, dass in der Frühzeit der Maschinenwaffen generell relativ häufig Ladehemmungen auftraten, deren Ursachen es schnell zu erkennen und zu beheben galt, weshalb MG-Schützen eine gründliche Ausbildung erhielten.

„Für dieses Maschinengewehr, lerne ich aus der ‚Süddeutschen Zeitung‘, wurde ein spezieller Kegelstift entwickelt, und für den galt dann die erste Industrienorm überhaupt.“

Aus einer Tageszeitung zu „lernen“, mag ja bequem sein. Doch sah sich das Deutsche Institut für Normung e.V. (DIN) schon vor fünf Jahren, anlässlich des 95. Jahrestags des Erscheinens der ersten DIN-Norm, veranlasst, der 08/15-Behauptung über DIN 1 in einer Pressemitteilung entgegenzutreten:

„Warum einem vergleichsweise so bescheidenen Maschinenelement wie dem Kegelstift die Ehre der ersten deutschen Norm zuteilwurde, lässt sich nicht mehr feststellen. Vielleicht ist aber der Wunsch, ihn aufzuwerten oder interessanter zu machen, dafür verantwortlich, dass seit einigen Jahren vielfach behauptet wird, er wäre extra für das bekannte Maschinengewehr 08/15 bestimmt gewesen. Das ist bisher nicht belegt und wenig wahrscheinlich. Die Fachbücher sind sich einig, dass der Kegelstift im Maschinenbau gute Dienste bei der Lagesicherung und Zentrierung von Bauteilen, zum Beispiel im Vorrichtungsbau, leistet, dass er form- und reibschlüssige Verbindungen bilden kann, aber auch dass diese Verbindungen nicht rüttelfest sind. Sie eignen sich nicht für Verbindungen, auf die Erschütterungen und Schläge einwirken. Was rüttelt sich und schüttelt sich aber heftiger als ein Maschinengewehr im Einsatz, bei dem ein Rückstoßverstärker ein funktional wichtiges Teil der Konstruktion ist?“

„Vor genau 100 Jahren trat sie in Kraft, ‚DIN 1 – Kegelstifte‘.“

Richtig ist, was das Deutsche Institut für Normung e.V. (DIN) formuliert: „Am 1. März 1918 erschien die allererste DIN-Norm, damals noch Deutsche Industrie Norm, unter der Bezeichnung DI Norm 1.“ Wer von einem „Inkrafttreten“ spricht, könnte auch erwähnen, dass DIN 1 im Oktober 1992 inhaltlich in eine Europäische Norm, DIN EN 22339, überführt und durch diese ersetzt wurde.

Pointen statt Tatsachen?

„Seitdem geht’s hierzulande ordentlich und übersichtlich zu.“

Das ist natürlich Ansichtssache. Für manche Chefredaktion gilt es aber offenbar nicht. Wenn jemand gerne auf den „Treppenwitz der Weltgeschichte“ (William Lewis Hertslet) hereinfällt, bei dem die Pointen nachträglich hinzuerfunden sind (in der Regel übrigens tatsächlich, um etwas „aufzuwerten oder interessanter zu machen“, wie es in der DIN-Richtigstellung heißt), ist es das eine. Etwas anderes ist es, dass ein solcher Text trotz der teilweise offensichtlichen Unrichtigkeiten – „Nullachtfünfzehn steht […] für das Unzulängliche, das Schlampige“, „Reichswehr im Ersten Weltkrieg“ – auch eine Woche später noch so auf spiegel.de zu lesen ist.

Früher – 1985, Stichwort: Goethe und der Frankfurter Bahnhof – konnte ein kapitaler Bock durchaus das Ende der Karriere bedeuten. Heute lässt man ihn einfach auf der Lichtung liegen. Das Lamento über das Misstrauen, das Medien inzwischen nicht selten entgegenschlägt, erscheint da ziemlich unangemessen.

Ulrich Wenck

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 9. März 2018

DIE ABLÖSUNG GEHT WEITER

Wahlen in Italien: Die Anti-Establishment-Partei „Movimento 5 Stelle“ (Fünf-Sterne-Bewegung) wurde mit über 32 Prozent wesentlich stärker als gedacht – und zur erfolgreichsten Einzelpartei. Spitzenkandidat Luigi Di Maio hat gute Chancen, italienischer Ministerpräsident zu werden. Wofür er steht.

GRÖSSERER MITTELSTAND
BENACHTEILIGT

Nicht Großkonzerne, sondern der Mittelstand bildet in Deutschland das Rückgrat der Volkswirtschaft. Umso wichtiger, dass hier die Rahmenbedingungen stimmen. Dass dies nur bedingt der Fall ist, dokumentiert ein aktueller Bericht des Kölner Instituts der Deutschen Wirtschaft. Größere Mittelständler werden großunternehmensspezifischen Regulierungen unterworfen.

WENIGER DIALOG, MEHR MILITÄR?

Von einem konstruktiven Dialog mit Russland wolle die nordatlantische Allianz offensichtlich nichts mehr wissen, meint Russlands Vize-Außenminister Alexander Gruschko. Ist es eine gute Idee, dass sich die Bundeswehr 2018 mit 12.000 Soldaten an NATO-Manövern im östlichen und nördlichen Bündnisgebiet beteiligt?

MEHR ALS EIN DIESEL-PROBLEM

Die Mobilitätsdebatte darf sich nicht auf die Frage verbesserter Antriebssysteme reduzieren. Die Zusammenhänge zwischen Globalisierung, Entortung und ökologischer Zertrümmerung nicht anzusprechen und aus ihnen keine Schlussfolgerungen zu ziehen, gehört zu den großen Versäumnissen auch und gerade der Bundesregierung.

DAS GLASHAUS ZU BRÜSSEL

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und weitere EU-Größen empören sich über die von US-Präsident Donald Trump angekündigten Zölle auf Stahl und Aluminium. Dabei arbeitet die Europäische Union mit gleichen Instrumenten. Zur Gefahr eines Handelskrieges.

GEGEN DEN STILLEN RÜCKZUG

Nach der Entscheidung der Essener Tafel, vorübergehend nur Kunden mit deutschem Personalausweis neu aufzunehmen, schalt die Kanzlerin die Ehrenamtlichen vor Ort. Dabei ziehen sich – eine fatale Auswirkung ihrer Politik – auch andernorts Bürgern von bestimmten Orten still zurück. Und der frühere SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück registriert „die Verdrängung Einheimischer“.

WACHDIENST SCHÜTZT SCHULE

Reichlich Gewalt und Sorge um die Sicherheit von Lehrern: Die Spreewald-Grundschule in Berlin-Schöneberg hat jetzt auf eigene Kosten einen Wachdienst engagiert, um der brenzligen Lage Herr zu werden. Kritik hat nicht lange auf sich warten lassen.

WAHLÜBERRASCHUNG IN KÄRNTEN

Bei den Landtagswahlen im Bundesland Kärnten konnten die regierenden Sozialdemokraten unter Landeshauptmann Peter Kaiser ihre starke Position ausbauen. Auf dem zweiten Platz liegen weiterhin die Freiheitlichen, die sich ebenfalls verbessern konnten, während die „Grünen“ aus dem Parlament gewählt sind. Welche Koalition ist nun am wahrscheinlichsten?

DIE „PARSIFAL“-INSZENIERUNG
DER NEW YORKER MET

… ist ein einzigartiges Erlebnis. Zum zweiten Mal nach 2013 brachte das Opernhaus im Februar die Oper in der Interpretation des frankokanadischen Regisseurs François Girard zur Aufführung. Die New Yorker Verbindung zu Richard Wagners letztem musikdramatischen Werk ist seit dem „Gralsraub“ von 1903 ohnehin eine ganz besondere.

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