Nr. 10 vom 2.3.2018

Nr. 10 vom 2.3.2018

Standpunkt

„Ein historisch einzigartiges Experiment“

Yascha Mounk, Jahrgang 1982, geboren und aufgewachsen in Deutschland, ist Politologe in Harvard und hat im vergangenen Jahr die US-amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen. Sein aktuelles Buch hat er so überschrieben: „Der Zerfall der Demokratie – Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht“. Am Dienstag, 20. Februar, wurde er als Experte in den „Tagesthemen“ zu den Aussichten der Großen Koalition vor dem Hintergrund des „Aufstiegs der Populisten“ befragt. Deren Wahlerfolge erklärt Mounk unter anderem damit, „dass wir hier ein historisch einzigartiges Experiment wagen, und zwar eine monoethnische, monokulturelle Demokratie in eine multiethnische zu verwandeln. Das kann klappen, das wird, glaube ich, auch klappen, aber da kommt es natürlich auch zu vielen Verwerfungen.“

Das Experiment, von dem Mounk so dankenswert offen spricht, hat aber keine demokratische Legitimation – und ist selbst eine Bedrohung für die Demokratie. Dass sich gegen den Großversuch eine aus einer demokratischen Wahl hervorgegangene Opposition im Bundestag positioniert, bedeutet hingegen, dass der „Aufstieg von Populisten“ keinesfalls ein Alarmsignal für ein vermeintlich drohendes Ende der Demokratie ist, sondern vielmehr Beweis für deren Funktionsfähigkeit.

Verwerfungen und Opfer des Versuchs sind währenddessen an verschiedenen Stellen zu beobachten; zum Beispiel wären die politischen Risse, die sich beim Migrationsthema sogar in Freundeskreisen und Familien gebildet haben, zu nennen oder das schwindende Sicherheitsgefühl im öffentlichen Raum. Wer zahlt also den Preis für das „historisch einzigartige Experiment“?

Auch wenn Mounk an einen positiven Ausgang „glaubt“, ist ein solcher für den demokratischen Rechts- und Sozialstaat eher unwahrscheinlich. Der Nationalstaat bleibt nun einmal trotz aller Weltstaatsutopien der Rahmen, in dem Demokratie sinnvoll praktiziert werden kann. Diversität, auf die das Großexperiment zielt, stellt, wie der Oxford-Ökonom Paul Collier in seinem Buch „Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen“ mit Bezug auf den US-Soziologen Robert Putnam zeigt, erst einmal keinen Wert an sich dar, sondern kann vielmehr eine Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedeuten. In einer von Diversität geprägten Gesellschaft nehmen laut Putnam Vertrauen und Bereitschaft zur Kooperation und Umverteilung ab. Deshalb plädiert Collier für eine Migrationspolitik, die die Stabilität der Aufnahmegesellschaft im Blick hat (und auch – Stichwort Braindrain – für die Herkunftsstaaten verträglich ist).

Das „historisch einzigartige Experiment“ läuft außerdem auf die Frage hinaus, wer als Staatsvolk die Geschicke lenken wird, wenn dieses in eine heterogene Gesellschaft aufgelöst worden ist. Dass der Nationalstaat noch auf längere Sicht unerlässlich bleibt, stellte zum Beispiel der Schweizer Jurist René Rhinow im November 2016 in einem Kommentar für die „Neue Zürcher Zeitung“ fest: „Trotz allen Mutationsprozessen ist er nach wie vor Hort der Demokratie […]. Die nationalstaatliche Solidargemeinschaft erstreckt sich traditionellerweise auf den sozialen Bereich, auf die Sozialstaatlichkeit. Sie betrifft aber auch die vielfältigen Formen der Sicherheitsvorsorge bis hin zur Landesverteidigung. Schließlich gehört zur Individualität des Nationalstaates auch eine ‚gemeinsam geteilte […] Welt kultureller Selbstverständlichkeiten‘, wie es Otfried Höffe genannt hat.“

Außer Zweifel steht indes, dass Befürworter des Großexperiments wie Mounk keinen allzu hohen Einsatz wagen. Denn vom Scheitern wären in erster Linie nicht die Eliten mit transkulturellem Habitus betroffen, sondern jene, die sich nicht in „gated communities“ zurückziehen können, die weiterhin auf öffentliche Transportmittel angewiesen sind, die keine privaten Sicherheitsdienste engagieren können.

AW

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 2. März 2018

WAS HAT MERKEL „VERSTANDEN“?

Die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende hat ihre „neue“ Ministerriege präsentiert, sich den GroKo-Vertrag absegnen lassen und Kramp-Karrenbauer als Generalsekretärin installiert. Dass Kritik – wie die Abrechnung des Delegierten Eugen Abler auf dem CDU-Sonderparteitag – völlig an ihr abperlt, zeigt sich nicht zuletzt an ihrer Verurteilung der Essener Tafel.

GEGEN HEIZEN BEI OFFENEM FENSTER

Nicht nur aus Sicht der Dänischen Volkspartei (Dansk Folkeparti) ist ein Sozialstaat ohne Zuwanderungskontrolle wie Heizen bei offenem Fenster. Auch Dänemarks Sozialdemokratie hat die Unvereinbarkeit von sozialer Sicherheit und Massenzuwanderung zunehmend erkannt – und überrascht mit einer Kehrtwende.

RIVALITÄT IM INDISCHEN OZEAN

Seit Präsident Abdulla Yameen am 5. Februar den Ausnahmezustand verhängt hat, werden die Malediven nicht mehr nur als Urlaubsparadies wahrgenommen. Indien sieht sein Einflussgebiet gefährdet, China will den eigenen Einfluss ausbauen und auch Washington mischt mit.

VORSICHT, VERPACKUNGSMÜLL!

Nach dem aktuellen Bericht des Umweltbundesamtes über „Aufkommen und Verwertung von Verpackungsabfällen“ ist der Verpackungsmüll in den letzten Jahren immer mehr geworden. Vor allem der Anteil der Plastikverpackungen hat massiv zugenommen. Dabei gibt es gute Alternativen.

VIELE GEWINNER IN TIROL

Bundeskanzler Sebastian Kurz zählte zu den ersten Gratulanten: Bei den Landtagswahlen am vergangenen Sonntag in Tirol war die ÖVP der souveräne Sieger. Landeshauptmann Günther Platter konnte seine Position ausbauen. Auch FPÖ und SPÖ legten zu.

WUNDER GIBT ES IMMER WIEDER

Die deutsche Eishockeymannschaft überzeugte in Pyeongchang über die Maßen, spielte und kämpfte sich in die Herzen ungezählter Sportfreunde und gewann am Ende in einer knappen Partie gegen die russische Auswahl die olympische Silbermedaille. Das hatte es noch nie gegeben.

AUS DER ALTEN IN DIE NEUE WELT

Erhaben thront in Washington D.C. das repräsentative Jefferson-Gebäude der Library of Congress über dem Senat. Die Architektur ist das Werk zweier deutscher Auswanderer, Paul Pelz aus Schlesien und Johann Schmitmeyer aus Wien. Ein Rundgang.

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