Nr. 10 vom 1.3.2019

Nr. 10 vom 1.3.2019

Standpunkt

Legenden

Karl Lagerfeld aus Hamburg war schon lange eine Legende, bleibt ein Mythos. Legenden in einem weniger positiven Sinne sind es jedoch, die man anlässlich seines Todes in Deutschland aufgewärmt hat. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 20. Februar 2019 brachte es im kurzen Leitartikel auf Seite 1 auf mindestens drei Aussagen, die in diese Kategorie – man kann dazu auch Klischees sagen – fallen:

„Lagerfeld war schon früh dem noch dumpfen Nachkriegsdeutschland entflohen.“

„Kaiser Karl, so nannte man ihn auch in Paris. Da klang noch die deutsche Großmannssucht mit, die den Franzosen gleich zwei Mal im 20. Jahrhundert übel mitgespielt hatte.“

Der Modeschöpfer „wurde auch deshalb verehrt wie ein Unsterblicher, weil er die Schwäche der Franzosen, ihre Liebe zum Luxus, verstand und sogar in eine Stärke verwandelte“.

„Dumpf“, „provinziell“?

Meinungsfreudigkeit ist schön und gut, aber wäre nicht gerade, wenn man sich über ganze Länder und Völker, ihre vermeintliche „Sucht“ und ihre angebliche „Schwäche“ äußert, mehr Zurückhaltung angebracht?

Die Tageszeitung „Die Welt“ vom selben Tag war nicht besser. Neben dem Lagerfeld-Titelbild verkündete sie: „Wir Deutschen, in Sachen Stil seit Jahrzehnten zurückgeblieben, verdanken ihm besonders viel. Er hat uns vom Fluch ewiger Provinzialität befreit. Zumindest ein bisschen.“

Ist Karl Lagerfeld, als er 1953 mit seiner Mutter nach Paris zog, wirklich „schon früh“ einem „noch dumpfen Nachkriegsdeutschland entflohen“? Klaus Harpprecht (1927–2016), ehemals Redenschreiber und Berater von Willy Brandt, hat 2009 mit dem Artikel „Die Legende vom Muff der 50er Jahre“ eigentlich schon das Meiste dazu gesagt. In dem Beitrag, der in „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“ erschienen ist, regte Harpprecht „einen automatischen Schwärzer“ und „50 Euro Strafe (zugunsten der Weihnachtskasse) für den fahrlässigen Gebrauch von Stereotypen wie den ‚Muff der 50er Jahre‘“ an.

Nicht nur „Jung-Intellektuelle, die es nicht besser wissen“, bedienten sich dieses Stereotyps: „Nicht anders als der traurige Böll und der schlaue Koeppen versuchte der linkskatholische Essayist Walter Dirks uns den Geschmack an der kaum geborenen Bundesrepublik auszutreiben: durch seine sägende Klage, wir seien – eben der Diktatur entronnen – schon wieder die Opfer der ‚Restauration‘.“

Eine der produktivsten Epochen

Dabei seien die 50er Jahre „in Wirklichkeit eine der wirtschaftlich und politisch produktivsten Epochen der deutschen Geschichte“ gewesen. Harpprecht beschrieb nicht nur die geistige Offenheit der jungen Bundesrepublik, sondern auch, wie sie die „tiefste soziale Umwälzung seit dem Dreißigjährigen Krieg“ bewältigte: „Muff? Der Bundeshaushalt des Jahres 1951 (von 20,86 Milliarden) bestimmte 4,03 Milliarden für die ‚Kriegsfolgelasten‘ und 4,6 Milliarden für die Besatzungskosten. Durch den Lastenausgleich, im Sommer 1952 beschlossen, begann eine Umschichtung der Vermögen, die 1979 eine Summe von 114 Milliarden Mark erreichte.“ Und: „Im April 1951 wurde die paritätische Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Montan-Industrie (Kohle und Stahl und später auch die Chemie) beschlossen. Dem Vorstand der Betriebe wurde ein Arbeitsdirektor zugeordnet. Im Oktober 1952 folgte das ‚Betriebsverfassungsgesetz‘, das die Wahl von Betriebsräten und ihre Mitbestimmungsrechte festlegte.“

Harpprechts Loblied auf die 50er endet nicht bei der Sozialen Marktwirtschaft. Vielmehr seien auch „die erotischen Aktivitäten der Bundesdeutschen“ keineswegs so „vermufft“ gewesen, wie es hernach behauptet wurde.

Futter fürs Phrasenschwein

Noch einmal zu Karl Lagerfeld: Als 1933 geborener Sohn des „Glücksklee“-Milchfabrikanten Otto Lagerfeldt und dessen als „kapriziös“ geschilderter Ehefrau Elisabeth war er selbst, wie auch viele seiner späteren Standpunkte und Haltungen unterstreichen, ein Kind Nachkriegsdeutschlands. Ist es noch Gedankenlosigkeit oder schon Rabulistik, ihn gegen seine eigenen Wurzeln, die von seinem Erfolg kaum zu trennen sind, in Stellung bringen zu wollen?

Der von Klaus Harpprecht vorgeschlagene „automatische Schwärzer“ ist wohl nicht die richtige Lösung – zu leicht könnte er missbraucht werden –, aber über das Phrasenschwein, in das derjenige 50 Euro werfen muss, der ein abgedroschenes Klischee wieder aufleben lässt, sollte man noch einmal nachdenken.

Ulrich Wenck

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 1. März 2019

IN BRÜSSEL LIEGEN DIE NERVEN BLANK

„In Brüssel“ – und nicht etwa in London – „nimmt die Verzweiflung über Mays Umgang mit dem Brexit zu“, so der „Guardian“. Bizarre Aussagen über Care-Pakete für die britischen Tafeln nach dem Brexit gehen an der Wirklichkeit vorbei. Großbritannien weist die niedrigste Arbeitslosenquote seit 1975 aus.

MORAL STATT FAKTEN?

Die von der ARD in Auftrag gegebene „Framing Manual“ sollte dem Verbund öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten eigentlich zur Imageaufbesserung dienen. Dieser „Leitfaden“ und die kontroversen Diskussionen um ihn sind für die ARD allerdings zu einem PR-Desaster geraten.

IS-KÄMPFER WIEDER INS LAND LASSEN?

Wie umgehen mit radikalisierten Muslimen, die nach Syrien und in den Irak ausgereist waren, um sich dem IS anzuschließen? Verschiedene Möglichkeiten werden diskutiert. Der Spielraum ist, auch aufgrund von politischen Versäumnissen und Fehlentscheidungen, allerdings begrenzt.

ANREGUNGEN AUS DER SCHWEIZ

Ab 1. März 2019 gibt es in Österreich „Ausreisezentren“, in denen unter anderem entschieden wird, ob ein Dublin-Verfahren oder ein „Fast-Track-Verfahren“ angewandt wird. Auch werde eine intensive Rückkehrberatung stattfinden, kündigte Innenminister Kickl am 25. Februar an.

AUF DEM ZENIT

Matteo Salvini fährt auch bei Regionalwahlen Siege ein. Seine Lega und ihr Koalitionspartner, die Fünf-Sterne-Bewegung, erreichen bei Umfragen auf nationaler Ebene gemeinsam 60 Prozent – ein Traumwert, von dem die meisten europäischen Regierungen, inklusive der Großen Koalition in Berlin, träumen.

DER DAUERBRENNER

Bei den US-Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr wird Bernie Sanders 78 Jahre alt sein. Dennoch möchte Sanders, der sich als „Sozialist“ bezeichnet, der nächste Präsident der Vereinigten Staaten werden.

WASSER PREDIGEN, WEIN TRINKEN?

Während Klimawandel, Artensterben, Lebensmittelverschwendung oder auch die verkehrspolitischen Schadstoff-Diskussionen die Bürger bewegen, verhält man sich im politischen Berlin diesbezüglich recht sorglos, wenn es konkret wird.

DER VERKEHR HINKT HINTERHER

Die Deutsche Energie-Agentur stellt der Bundesrepublik im Rahmen ihrer Leitstudie „Integrierte Energiewende“ kein gutes Zeugnis aus. So heißt es dort: „Die Energiewende im Verkehr war bisher in Deutschland nicht besonders erfolgreich.“ Was jetzt geschehen müsste.

GEBIRGE IM SCHLUMMERMODUS

Im äußersten Westen der Bundesrepublik Deutschland – begrenzt von der Ahr im Norden, der Mosel im Süden, den Ardennen im Westen und dem Rhein im Osten – liegt eines der vulkanisch aktivsten Gebiete Mitteleuropas, die Vulkaneifel. Was bedeuten die neuen Erkenntnisse zu den dortigen Magmabewegungen?

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