Nr. 49 vom 2.12.2016

Nr. 49 vom 2.12.2016

Standpunkt

Journalistisch nicht korrekt

Zu Tode schleifen, das gehörte in Deutschland bisher in das Reich des – oft unterschätzten – Karl May. In der etwas freien Verfilmung von „Der Schut” wird Kara Ben Nemsi zu diesem Zweck hinter eine Kutsche gebunden. Die schlimme Szene, obwohl glimpflich ausgegangen, konnte ich als Kind nicht aus meinem Kopf verbannen. Und in Mays Reiseerzählung „Himmelslicht” aus dem Jahr 1892 sollen „ungläubige Hunde” – Parsen, also Zarathustra-Anhänger – auf solche Weise behandelt werden. Kara Ben Nemsi, begleitet von Hadschi Halef Omar, verhindert es mit seinem Henry-Stutzen – nach folgendem Dialog: „,O Allah! Man will sie zu Tode schleifen! Siehst Du es, Sihdi?’ fragte Halef. Natürlich sah ich es! Das Pferd sollte an dem langen Stricke, welcher als Longe diente, im Kreise herum getrieben werden und die beiden armen Menschen hinter sich her schleppen, bis sie tot waren.” Über die Übeltäter erfährt man bei Karl May, dass sie „aus der Gegend von Suleimania” waren. Suleimania (Sulaimaniyya) ist eine Stadt in Kurdistan – staatlich gehört es heute zum Irak.

An diese Schilderungen fühlte sich wohl mancher erinnert, als er in der vergangenen Woche von dem Verbrechen eines „38-Jährigen aus Bad Münder“ las, der am 20. November in Hameln die Mutter seines zweijährigen Sohnes zuerst niederstach und dann hinter einem Auto durch die Stadt schleifte, bis das an ihrem Hals angebrachte Seil riss. Eine Woche und zwei Notoperationen später öffnete die Frau kurz die Augen, konnte aber nicht sprechen.

Das also hat sich in Niedersachsen zugetragen? Aus der „Deister- und Weserzeitung“ erfuhr man außerdem, dass Täter wie Opfer „aus Großfamilien“ stammen. Da nicht bekannt ist, dass die Mitglieder größerer Familien ganz anderen Regeln folgten als jene kleinerer Familien, konnte man sich fragen, was diese Bemerkung soll. Noch stutziger machte der folgende Satz: „Racheakte werden befürchtet.“

Inzwischen ist längst klar: Täter und Opfer des erschütternden Verbrechens gehören kurdischen Clans an. Der Kriminologe Professor Christian Pfeiffer sprach offen aus, dass der Fall „schwer ohne den kulturellen Hintergrund“ zu erklären ist. Man fragt sich nur, warum Teile der Massenmedien es dann trotzdem versucht haben. Ohne Rücksicht auf die Bad Münderaner, auf die Niedersachsen, auf die Großfamilien. Lieber lässt man substanzlose Ansichten über sie aufkommen, als den wirklichen Kontext zu offenbaren. Das ist – journalistisch und menschlich – nicht korrekt.

Karl Diefenbach

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 2. Dezember 2016

FREISPRUCH FÜR FIDEL CASTRO?

Fidel Castro verstarb am 25. November im Alter von 90 Jahren, genau 60 Jahre nachdem die Jacht „Granma“ in Mexiko abgelegt hatte, um die Revolution nach Kuba zu bringen. „Die Geschichte wird mich freisprechen“, hatte er 1953 in seiner Verteidigungsrede nach dem gescheiterten Sturm auf die Moncada-Kaserne angekündigt. Revolutionär, Diktator, Ikone: Wie wird das Urteil ausfallen?

FILLON – KONSERVATIVER PROVOKATEUR

Schon in der ersten Runde der französischen Vorwahlen der Konservativen und des Zentrums zur Präsidentschaftswahl 2017 hatte Außenseiter François Fillon den als Favoriten gehandelten Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy geschlagen. Nun besiegte er in der zweiten Runde auch seinen Konkurrenten Alain Juppé. Wofür steht Fillon? Und was bedeutet seine Kandidatur für Marine Le Pen?

SOZ STATT EU

Vor dem Hintergrund verschlechterter Beziehungen zu USA, NATO und EU sieht sich die Türkei nach neuen Partnern um. Zur Europäischen Union zu gehören, scheint für Ankara nicht mehr das Maß aller Dinge zu sein. Präsident Erdogan denkt über einen Beitritt zur Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit nach.

DER NEUE US-PRÄSIDENT

Vom Immobilienunternehmer zum Staatschef der Vereinigten Staaten von Amerika: Wie tickt Donald Trump, worauf basiert sein sagenhafter Aufstieg und was hat die Welt von ihm zu erwarten?

ÖSTERREICH: ROT-BLAUE ANNÄHERUNG

Die Bundespräsidentenwahl in Österreich zieht internationale Aufmerksamkeit auf sich. Zuletzt nährten SPD-Bundeskanzler Christian Kern und FPÖ-Bundesparteiobmann Heinz-Christian Strache Spekulationen darüber, wie weit die Annäherung der beiden Parteien gehen wird.

AKTUELLE RECHTSPRECHUNG

Mehrere höchstrichterliche Entscheidungen haben zuletzt heftige Debatten ausgelöst. Und demnächst entscheidet der Bayerische Verfassungsgerichtshof über das Ansinnen, der Bayerischen Staatsregierung zu untersagen, dem Freihandelsabkommen CETA zuzustimmen.

STEIGENDER UNMUT

Friedrich-Ebert-Stiftung und Universität Bielefeld haben herausgefunden: Es herrscht keine gute Stimmung in der bundesdeutschen Gesellschaft. Mittlerweile sind 25 Prozent der Befragten der Meinung, die regierenden Parteien würden „das Volk betrügen“.

DER EINZELGÄNGER

Gustav Sack war nicht nur literarisch ein Außenseiter. Mit der Masse konnte er nicht gehen, selbst den Emotionen des „Augusterlebnisses“ 1914 entzog er sich. Vor 100 Jahren fiel der Dichter, dessen sonderliches Werk so unterschiedliche Charaktere wie Adorno und Ernst Jünger in Bann zog.

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