Nr. 37 vom 8.9.2017
Standpunkt
„Da sind wir einer Meinung“
Als „größtes Fernsehereignis des Jahres“ und „Höhepunkt des Bundestagswahlkampfes“ hatten bundesdeutsche Medien das sogenannte TV-Duell zwischen Bundeskanzlerin Merkel und SPD-Chef Schulz angekündigt. Dabei stand von vorneherein fest, dass mit einem engagierten Schlagabtausch nicht zu rechnen war, denn Merkel machte ihre Teilnahme davon abhängig, dass die Moderatoren der vier beteiligten Fernsehanstalten (ARD, ZDF, RTL und ProSiebenSat.1) in vorgegebenen Themenblöcken die Kontrahenten nacheinander abfragen, womit Spontanität ausgeschlossen war. Allerdings hätte auch ein anderes Format die Veranstaltung nicht spannender gemacht, denn das angekündigte Duell mutierte zu einem mehr oder minder harmonischen Duett.
Uneinsichtig und ausweichend
Insbesondere bei dem viele Deutsche bewegenden Thema Migration unterschieden sich die Standpunkte nur marginal. Merkel bekräftigte erneut, die von ihr veranlasste Öffnung der Grenzen im September 2015 sei auch aus heutiger Sicht richtig gewesen. Schulz hielt dem lediglich entgegen, Merkel hätte die Partner in Europa einbeziehen sollen. Dabei war schon damals erkennbar, dass die meisten EU-Staaten es ablehnen, Deutschland einen Teil der Migranten abzunehmen, die Merkel angezogen hat.
Die wichtige Frage, ob die Sperre des Familiennachzugs für Migranten, die nur eingeschränkten, subsidiären Schutz erhalten haben, im März 2018 verlängert wird, ließ Merkel offen. Das werde sie sich im nächsten Jahr „ansehen“. Auch hier hakte Schulz nicht nach, obwohl es ihm Zuspruch gebracht hätte.
So plätscherte es dahin und die Auffassungen glichen sich immer mehr – bis zu gegenseitigem Lob. Beide wollen die Steuern für mittlere Einkommen senken und lehnen die Rente mit 70 ab. Das wäre nicht das erste gebrochene Wahlversprechen. Schulz kritisierte das Engagement des SPD-Altkanzlers Gerhard Schröder beim russischen Ölkonzern Rosneft, Merkel nickte beifällig. Die soziale Gerechtigkeit, die Schulz bislang im Wahlkampf wie eine Monstranz vor sich her trug, hatte er offenbar aus dem Auge verloren.
Was aber sonst kann Schulz einer Merkel vorhalten, die ihre Partei immer mehr an multikulti-„linke“ und „grüne“ Positionen angepasst hat und damit den Sozialdemokraten heutigen Zuschnitts die Themen aus der Hand geschlagen hat? Jüngstes Beispiel war die Einführung der „Ehe für alle“. Zudem musste Schulz sich von Merkel immer wieder vorhalten lassen, die SPD habe in der großen Koalition alle Vorhaben der Bundesregierung in Übereinstimmung mit der Union getragen.
Dass Schulz die PKW-Maut wieder abschaffen und Merkel sie beibehalten will – obwohl sie diese ursprünglich abgelehnt hatte –, ist nun wahrlich nicht der Knüller, der Schulz aus seinem Dilemma herausbringen könnte. In seiner Not raffte er sich zu einer Attacke auf die Türkei auf und forderte den Abbruch der EU-Beitrittsgespräche: „Keine weiteren Zahlungen, Abbruch der Beitrittsverhandlungen als deutsche Position in der EU.“ Aber auch hier nahm ihm Merkel den Wind aus den Segeln. Sie habe dafür Verständnis, fügte aber hinzu, man solle den Gesprächsfaden mit Ankara im Interesse der in der Türkei inhaftierten Deutschen nicht komplett abreißen lassen. Und im Übrigen stimme sie ihre Türkei-Politik „eng mit dem SPD-Außenminister Sigmar Gabriel“ ab.
„Anders kommt im Bundestag keine Diskussion auf“
Wie manche Medien auf die Idee kommen konnten, Schulz habe Merkel „attackiert“, ist rätselhaft. Bei dieser Sachlage ist es auch unerheblich, dass Merkel bei dem Aufeinandertreffen nach Umfragen besser abgeschnitten haben soll als Schulz. Es war letztlich ein harmloses Gespräch unter Freunden. Den Bürgern hat es so gut wie keine Anhaltspunkte für ihre Wahlentscheidung gebracht – außer vielleicht der Erkenntnis, dass beide Kandidaten und ihre Parteien eigentlich nicht mehr wählbar sind.
In den Kommentarspalten im Internet häuften sich allerdings noch am selben Abend weitergehende Schlussfolgerungen – zum Beispiel diese: „Das Duell war ein Plädoyer dafür, AfD zu wählen. Anders kommt im neuen Bundestag keinerlei Diskussion auf.“ Nach aktuellen Umfragen hat die noch junge Kraft gute Aussichten, im neuen Bundestag drittstärkste Partei zu werden. Laut dem Institut Trend Research Hamburg lag die AfD schon vor dem „Duell“ bundesweit bei 10 Prozent, Infratest dimap sah sie sogar bei 11 Prozent.
Jürgen Schwaiger
Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 8. September 2017
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Von einer Entspannung im Konflikt zwischen den USA und Nordkorea kann keine Rede sein. Hintergründe und mögliche globale Folgen der sich zunehmend andeutenden Eskalation.
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