Nr. 2 vom 5.1.2018

Nr. 2 vom 5.1.2018

Standpunkt

Wem gehört Stresemann?

Dass sich Alexander Gauland dafür aussprach, die künftige parteinahe Stiftung der AfD solle „Gustav-Stresemann-Stiftung“ heißen, sorgt für anhaltende Aufregung. Die Partei vergreife sich an dem Erbe anderer, lautet der Vorwurf.

Doch welche Bundestagspartei kann und will sich wirklich auf die Geisteshaltung und Gedankenwelt Gustav Stresemanns (1878–1929), des Gründers und Vorsitzenden der Deutschen Volkspartei, Reichskanzlers im Krisenjahr 1923, Außenministers von 1923 bis 1929 und Friedensnobelpreisträgers des Jahres 1926, beziehen oder weist zumindest Verständnis für sie auf?

„Selbstachtung“

Dabei soll nicht von Stresemanns Politik bis 1918 die Rede sein, die zuletzt durch ihre Nähe zu Ludendorff und der Obersten Heeresleitung gekennzeichnet war. Es genügt der Blick auf den Parteivorsitzenden und Staatsmann der Weimarer Republik. Auf jenen Stresemann, der in seiner Rede auf der Kundgebung der Deutschen Volkspartei (DVP) in der Berliner Philharmonie am 22. Februar 1919 erklärte: „Das ist das Schwerste in dem Ertragen der gegenwärtigen Situation, dass wir so wenig Würde im Unglück zeigen. Nicht dass wir unterlegen sind, drückt uns nieder. Wenn ein Volk wie das deutsche im Kampf gegen den größten Teil der Welt steht und dabei unterliegt, dann brauchen wir das Haupt nicht niederzusenken. Was uns die heutige Zeit so schwer erträglich macht, das ist nur das Niederreißen dessen, was wir in diesen Jahren geleistet haben, wir Deutschen selbst, das ist das geringe Maß von Selbstachtung und Ehre, das wir uns entgegenbringen […].“

Während man sich durch die eben zitierten Zeilen an Gaulands von Empörung umtosten Satz von den „Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“ erinnert fühlen mag, würde der in der Berliner Rede Stresemanns gleich anschließende, immer wieder leidenschaftlich variierte Gedanke heute von keinem Bundestagspolitiker unterschrieben werden: „Ein einziger Lichtblick bleibt uns in diesem Bilde. Das ist die Hoffnung, ja mehr gesagt, die Wahrscheinlichkeit auf eine Verbindung Deutschlands mit Deutschösterreich […].“ In „unseren Brüdern aus Österreich“ sei „das Deutschbewusstsein fester, stärker noch verankert als in uns“, formulierte Stresemann.

„Unseres Herzens Schlag“

Und was ist mit seinem bekannten Ausspruch auf dem Stuttgarter DVP-Parteitag im Jahre 1921, der auch nach Stresemanns Tod von seinen Freunden als Ausdruck seines tiefsten Fühlens gewertet wurde? Er lautet: „Auf dem kleinen Felseneiland, und gerade auf ihm, auf Helgoland, wo man hinausschaut auf das Meer, wo alte Träume deutscher Seeherrlichkeit die Seele pflügen, da ist das Lied gedichtet worden, das wir von niemand uns verwehren lassen auszusprechen, als unseres Herzens Empfindung, als unseres Herzens Schlag: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt.“ Können Martin Schulz, Claudia Roth oder Angela Merkel sich da hineinversetzen?

1924 erklärte Stresemann einem amerikanischen Korrespondenten nicht nur, dass seine Partei „unbedingt auf dem Boden der deutschen Reichsverfassung“ stehe, sondern auch, warum „meine Partei und ich festhielten an der Liebe zu den alten deutschen Farben Schwarz-Weiß-Rot“. Wer im Bundestag kann diese Haltung nachvollziehen?

Ein Thema, das Stresemann vom Zusammenbruch 1918 bis zu seinem Tode 1929 bewegte, war der Ausgleich des „alten“ mit dem „neuen Deutschland“. Noch kurz vor seinem Tod, im Gedenkbuch der Reichsregierung zum 10. Verfassungstag am 11. August 1929, sprach er sich in seinem Beitrag „Der deutsche Weg“ für die „Synthese des Alten mit dem Neuen” aus und für die „Achtung vor dem, was groß und ehrwürdig in dem alten Deutschland gewesen ist“. Klingt das wie Christian Lindner („Digital first – Bedenken second“)? Welche Bundestagsabgeordneten interessieren sich für diese Frage?

Von der FDP aufgegeben

FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki findet Gaulands Plan, Gustav Stresemann zum Namensgeber für eine AfD-nahe Stiftung zu machen, „geschichtslos“. Dabei ist diese Idee eher eine Folge eigener Geschichtsvergessenheit. Wahr ist, dass die FDP in den ersten Nachkriegsjahrzehnten auch das Erbe der Deutschen Volkspartei im Blick behielt – nicht nur durch das Parteisignet mit dem Adler und die Farben Schwarz-Weiß-Rot auf Plakaten und bei Versammlungen. Zum FDP-Programmparteitag in Berlin im Januar 1957 gehörte eine Kranzniederlegung an den Gräbern sowohl des Gründers der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), Friedrich Naumann, als auch Gustav Stresemanns. Als Vizekanzler nahm der damalige FDP-Vorsitzende Erich Mende in seiner Ansprache beim Festakt der Deutschen Burschenschaft aus Anlass ihres 150-jährigen Bestehens am 12. Juni 1965 in Berlin auf Stresemann Bezug: „Aber eines war in diesen anderthalb Jahrhunderten unwandelbar, die geistige Grundlage der Tätigkeit der DB: Jene Begriffe von Freiheit und Vaterland. Es ist kein Zufall, dass maßgebliche Repräsentanten des deutschen Liberalismus auch gleichzeitig gute Burschenschafter waren: Heinrich von Gagern, Johannes Miquel, Gustav Stresemann und der erste Präsident des Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe, Professor Hermann Höpker-Aschoff.“

Aber seit Mendes Ablösung von der FDP-Spitze im Jahr 1968 sind Stresemann und seine Gedankenwelt mehr und mehr verwaist, wurden als geistiger Besitz etablierterseits praktisch aufgegeben. Die Aufregung, wenn sich nun wieder eine Partei auf ihn beruft, weil sie seine Grundüberzeugung teilt, dass Demokratie und Nation zueinander gehören, ist also nicht gerechtfertigt.

Ulrich Wenck

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 5. Januar 2018

IMMER GUT INFORMIERT?

Warum ist der Fall der von einem Asylmigranten im südpfälzischen Kandel erstochenen 15-jährigen Schülerin von einigen reichweitenstarken Medien verschleiernd behandelt worden?

TRUMP AUF KONFRONTATIONSKURS

Donald Trump hat die neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA vorgestellt. Darin kündigt sich eine deutlich aggressivere Außenpolitik an. Das Papier enttäuscht alle, die hinter dem Versprechen „America first“ eine isolationistischere Politik statt mehr Konfrontation erhofft hatten.

JENSEITS ALLER KULTUREN

Das Konzept der „Transkulturalität“ nimmt allmählich den Weg vom akademischen Betrieb in die öffentliche Debatte. Was verbirgt sich dahinter? Und lohnt es die damit verbundenen Verluste an kultureller Vielfalt?

VERDÄCHTIGES SCHWARZ-ROT-GOLD

Mit einer Sonderausstellung überdehnt das aus öffentlichen Mitteln finanzierte NS-Dokumentationszentrum München, eigentlich ein „Lern- und Erinnerungsort zur Geschichte des Nationalsozialismus“, sein Mandat.

MUSS MERKEL WEG?

Nur noch eine Minderheit von 36 Prozent will Kanzlerin Merkel weitere vier Jahre im Amt sehen. Fast jeder Zweite wünscht sich, dass sie bei einer Wiederwahl zur Regierungschefin ihr Amt vor dem Ende der Legislaturperiode räumt.

GOLD IM SCHNEE

Die XXIII. Olympischen Winterspiele stehen an. Vom 9. bis zum 25. Februar gehen im südkoreanischen Pyeongchang Sportler aus mehr als 90 Ländern in 102 Wettbewerben auf die Jagd nach Gold, Silber und Bronze. In zahlreichen Wettbewerben zählen Deutsche zu den Favoriten.

DAS APFELBÄUMCHEN-ZITAT

„Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Martin Luther wird oft als Urheber des Spruchs angegeben, obwohl dessen erster schriftlicher Nachweis aus dem Jahr 1944 stammt. Schon kurze Zeit später war das vermeintliche Lutherwort in aller Munde – denn es erfasste treffend Hoffnungen und Mentalität des deutschen Wiederaufbaus.

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