Nr. 19 vom 4.5.2018

Nr. 19 vom 4.5.2018

Standpunkt

Die „Verwerfungen“

Ulrich Exner erklärte am 15. April in einem Kommentar der „Welt“: „Eine Einwanderungsgesellschaft, ein heterogenes Land, das zugleich einer enormen wirtschaftlichen Dynamik unterworfen ist, eine disruptive und zugleich multikulturelle Gesellschaft also, benötigt klarere, nachvollziehbarere, strengere Regeln und härtere Gesetze als die vergleichsweise übersichtliche und homogene Bundesrepublik vergangener Jahrzehnte. Sie braucht mehr Polizei, mehr Justiz und wahrscheinlich auch mehr Gefängnisplätze, um die Einhaltung dieser Regeln zu überwachen. Das ist vermutlich schwer zu ertragen für all jene, die seit Jahrzehnten für ein freies und zugleich ‚bunteres‘ Land streiten. Aber es ist bitter nötig, wie man nicht nur in Großburgwedel, in Preetz oder am Jungfernstieg sehen kann.“

Die Selbstverständlichkeit eines erträglichen Zusammenlebens auf Basis gemeinsamer Regeln, Normen und Moral wird tatsächlich aufs Spiel gesetzt für einen demokratisch nicht abgesegneten Großversuch mit ungewissem Ausgang, nämlich eine monoethnische in eine multiethnische Demokratie zu verwandeln. Dass ein solcher stattfindet, hatte der Harvard-Politologe Yascha Mounk vor einem guten Vierteljahr unverhohlen beschrieben, nicht ohne auf die „Verwerfungen“, die damit einhergehen, zu verweisen. Seinen Optimismus, dass das „historisch einzigartige Experiment“ gut gehen könne, teilen viele nicht.

Joachim Gauck sagte unlängst in einer Vorlesung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf über „Deutschland als Einwanderungsland“, dass es eine gemeinsame Grundlage des Zusammenlebens brauche und zwar „umso mehr, je weniger sich ein gesellschaftlicher Zusammenhalt auf ethnische und kulturelle Homogenität stützen kann“. Ob der Einsatz überhaupt lohnt, welche Vorteile der „bunten“ Gesellschaft die Nachteile überwiegen, ob sich diese Grundlage überhaupt schnell genug durchsetzen kann, scheint für die Verfechter des Experiments unerheblich.

Um die dabei entstehenden und in Kauf genommenen „Verwerfungen“ einzudämmen, sind also erst einmal Maßnahmen notwendig, deren Vorbild Gauck in der belgischen Stadt Mechelen zu finden meint. Dort sei die Polizei aufgestockt, der öffentliche Raum mit vielen Kameras versehen worden. „In Mechelen können Sie nicht rein- oder rausfahren, ohne das Ihr Kennzeichen registriert wird“, zitierte Anfang 2017 der Deutschlandfunk den Bürgermeister Bart Somers. Pro Jahr würden rund 96 Millionen Autokennzeichen erfasst. Von Mechelen ganz begeistert zeigte sich übrigens vor wenigen Tagen im „Welt“-Interview auch Katrin Göring-Eckardt, die 2015 ihre Freude darüber, dass Deutschland sich drastisch verändern würde, kundtat.

Was man auch aus Gaucks Worten lesen kann: Das Experiment, Deutschland zur Regenbogennation umzugestalten, funktioniert höchstens, wenn die Staatsgewalt ihre Muskeln spielen lässt. Mit zugespitzten Worten: „Multikulti“ geht nur mit Überwachung und Polizeischutz.

Diversität und soziales Kapital

Warum ist das so? „Die Erfahrung zeigt nämlich, dass Vertrauen und Kooperation in einer Gesellschaft abnehmen, in der die Verschiedenheit wächst,“ bemerkt der Ex-Bundespräsident.

Dieses Phänomen beschreibt der Oxford-Ökonom Paul Collier in seinem Buch „Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen“ (2013) ausführlich im Kapitel zu den sozialen Folgen der Einwanderung für die Aufnahmegesellschaft. Er beruft sich auf den anerkannten Harvard-Soziologen Robert David Putnam, der als führender Vertreter des Konzepts des „sozialen Kapitals“ gilt. Putnam fand heraus, dass das Vertrauen zwischen Einwanderern und Einheimischen in Gemeinden mit großem Migrantenanteil schwindet. Ein anderes Ergebnis von Putnams soziologischen Untersuchungen sei aber noch beunruhigender, schreibt Collier. „Je mehr Einwanderer in einer Gemeinde leben, desto geringer wird das Vertrauen nicht nur zwischen den Gruppen, sondern auch innerhalb der Gruppen.“ Putnam selbst findet: „Es wäre bedauerlich, wenn ein politisch korrekter Fortschrittsglaube die Realität der Herausforderung leugnet, die sich für die soziale Solidarität aus der Diversität ergibt.“

Marc Hooghe, Politologe an der Universität Löwen, Belgien, und sein Kollege Thomas de Vroome von der Universität im niederländischen Utrecht haben 2014 in einer Studie den Zusammenhang zwischen Diversität und Kriminalitätsfurcht beschrieben. „Der Anteil ethnischer Minderheiten in einer Gemeinde hat eine viel größere Auswirkung auf die Kriminalitätsfurcht als die tatsächlich registrierten Verbrechen“, schreiben sie. Hooghe und Vroome meinen, „die Relation von Diversität und Kriminalitätsfurcht scheint nicht mit Vorurteilen gegen Migranten zu tun zu haben“. Der Zusammenhang zwischen dem Einfluss der Diversität auf das soziale Kapital der Mehrheitsgesellschaft und das Gefühl kollektiver Betroffenheit müsste ihrer Meinung nach noch weiter untersucht werden.

Verlust persönlicher Freiheit

Der Öffentlichkeit ist Angst, Opfer eines Verbrechens zu werden, in letzter Zeit oft als irrationale Emotion verkauft worden, doch die Kriminologie weiß, dass die Kriminalitätsfurcht, ob empirisch begründet oder nicht, ganz reale Auswirkungen auf das Sozialleben und das Verhalten hat und nicht zuletzt sogar geeignet ist, tatsächlicher Kriminalität Räume zu schaffen. Das schreibt übrigens auch das Forscherduo. Vermeideverhalten ist das Stichwort, das auch den Verlust persönlicher Freiheiten einschließt. Logisch scheint, dass die Erosion des sozialen Kapitals nicht ohne Auswirkungen auf die Kriminalität bleibt.

Polizeipräsenz und Überwachung bekämpfen Symptome, nicht Ursachen. Damit uns das von Mounk so freimütig beschriebene Großexperiment nicht endgültig um die Ohren fliegt, muss dringend der Versuchsaufbau geändert werden.

AW

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 4. Mai 2018

200 JAHRE KARL MARX

Georg Wilhelm Friedrich Hegel gehört nach Meinung vieler zu Karl Marx wie Indianer zu Karl May. Doch tauchen im wichtigsten Werk von Marx, „Das Kapital“, die Grundbegriffe von Hegels Philosophie gar nicht auf. War Hegel wirklich sein geistiger Ahnherr? Und Marx Hegels „bedeutendster Schüler“?

DEUTSCHLAND BUCHT DEN FLIEGER

Anders als die Bundesregierung in Wien beteiligt sich die in Berlin an dem im letzten Sommer von der EU-Kommission beschlossenen Resettlement-Programm. Merkels in diesem Zusammenhang geäußerter Satz „Diesen Weg präferieren wir“ führt in die Irre. Denn die Bundesgrenze bleibt für jedermann offen, der „Interesse an Schutz oder Asyl in der Bundesrepublik“ zeigt, auch wenn er über sichere Drittstaaten angereist ist.

TRÜGERISCHES IDYLL

Der Englische Garten in München war an zwei Aprilwochenenden hintereinander Schauplatz von Gewalt bislang unbekannter Ausprägung. Die Polizei soll nun mit erhöhter Präsenz, darunter mehr Beamte hoch zu Ross, für Ordnung sorgen. Was steckt hinter den Ausschreitungen?

WASHINGTONS VERLÄNGERTER ARM

In Europa weitgehend unbemerkt, nimmt Australien gegenüber kleinen Pazifikstaaten mittlerweile die Rolle eines Hilfssheriffs wahr. Es geht dabei in erster Linie um die Eindämmung Chinas in Ozeanien, wie Dr. Bernhard Tomaschitz analysiert.

PLASTIK AUF ALLEN EBENEN

Ein internationales Forscherteam hat herausgefunden, dass der Große Pazifische Müllstrudel viel größer ist und viel mehr Plastik enthält als bisher angenommen. In einem Gebiet von 1,6 Millionen Quadratkilometern treiben knapp 80.000 Tonnen
Plastik.

„SCHLIMMERES VERHINDERT“

Einen Angriff auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit unternahmen am 25. April in Linz etwa 60 Linksextremisten, als sie mit Gewalt gegen einen von etwa 20 Personen betreuten Informationsstand der Identitären Bewegung vorgingen. Die anschließende Diskussion um den Polizeieinsatz.

„HOCH ÜBER EUREN SORGEN“

Eichendorffs Gedicht „Frühlingsmarsch“ entstand 1813/14, als der junge Verwaltungsjurist als Freiwilliger gegen napoleonische Unterdrückung kämpfte. Die erste Strophe zeigt uns aber keine marschierenden Soldaten, sondern das lyrische Ich steigt auf einen hohen Baum, einen Turm oder einen Berg: „Hoch über euren Sorgen sah ich vom Berg ins Land. Voll tausend guter Morgen die Welt in Blüten stand.“

MAGDEBURG IST WIEDER DA

Vorzeitig hat am Wochenende der traditionsreiche 1. FC Magdeburg mit einem 2:0-Heimsieg über Fortuna Köln den ersehnten Aufstieg von der dritten in die zweite Bundesliga sichergestellt. Damit meldet sich eines der Schwergewichte der früheren DDR-Oberliga zurück auf der großen Fußballbühne.

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