Nr. 50 vom 9.12.2016

Standpunkt

„Da zählt ein Mordfall nicht dazu“

Der bedeutende Ermittlungserfolg, dem zufolge die 19-jährige Studentin Maria Ladenburger am 16. Oktober 2016 in Freiburg von einem angeblich 17-jährigen, im November 2015 in die Bundesrepublik eingereisten afghanischen Migranten vergewaltigt und getötet worden ist, war der „Tagesschau“ vom 3. Dezember 2016 keinen Bericht wert. Dabei sorgt der Fall schon länger für Beunruhigung und bundesweite Aufmerksamkeit. Es dauerte nicht lang, da sah sich die ARD gezwungen, im Internet die Wogen etwas zu glätten. Angeblich fiel die Entscheidung, in der „Tagesschau“ nicht zu berichten, mangels Relevanz des Falles. Es spricht aber mehr dafür, dass er im Gegenteil zu relevant war – gerade am Vorabend der österreichischen Bundespräsidentenwahl, für die ein Kopf-an-Kopf-Rennen prognostiziert war.

Das Hauptargument von Kai Gniffke – Jahrgang 1960, promovierter Politikwissenschaftler und seit 2006 Chefredakteur von „ARD-aktuell“ und somit auch der „Tagesschau“ sowie der „Tagesthemen“ – im Erklärungsversuch vom 4. Dezember, dem noch weitere folgen sollten, lautete: „Die Tagesschau berichtet über gesellschaftlich, national und international relevante Ereignisse. Da zählt ein Mordfall nicht dazu.“ Tatsächlich spricht alles dafür, dass der Fall nicht nur gesellschaftlich und national – die Festnahme beschäftigt, wie vorherzusehen, nicht zuletzt die Bundesregierung –, sondern auch international relevant ist. Wie sonst wäre es zu erklären, dass an jenem Samstag, 3. Dezember, – im Anschluss an die gemeinsame Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft Freiburg, des Landeskriminalamts Baden-Württemberg und des Polizeipräsidiums Freiburg – international Zeitungen und Agenturen über den Fall berichteten? Die „New York Times“ überschrieb ihren Beitrag mit den Worten „Afghan Teenager Detained in Rape, Slaying of German Student“. Das war am 3. Dezember um 11.42 Uhr vormittags, New Yorker Zeit, also mehr als zweiStunden vor Beginn der 20-Uhr-Tagesschau. „Le Parisien“ wählte die Überschrift: „Allemagne: un réfugié mineur afghan interpellé pour le meurtre d’une étudiante“. Der „Belfast Telegraph“ brachte zu seinem Bericht „Afghan migrant, 17, held over rape and murder of university student“, in klarer Erkenntnis der politischen Dimension des Falles, sogarein Foto der deutschen Regierungschefin mit der Bildunterschrift: „Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Der junge Mann aus Afghanistan kam als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland.“ Ebenfalls am 3.Dezember war bereits eine englische Wikipediaseite zum Thema „Murder of Maria Ladenburger” angelegt.

Tatsächlich ist es so, dass erfahrene Beobachter die Brisanz der Meldung aus Freiburg in der Samstags-„Tagesschau“ mit ihren zehn Millionen Zusehern am Abend vor der österreichischen Bundespräsidentenwahl klar erkannten. Es ist unwahrscheinlich (und würde andere Fragen aufwerfen), dass die „Tagesschau“-Chefredaktion in Hamburg da eine Ausnahme machte. Zu der umstrittenen ARD-Entscheidung mag dann auch noch die Tendenz beigetragen haben, solche Taten als „Einzelfälle“ von „regionaler Bedeutung“ zu behandeln, was mit dem Mord an Maria Ladenburger aber kaum funktionieren konnte.

B. Schreiber

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 9. Dezember 2016

EURO IM KRISENMODUS

Die Folgen der Ablehnung der vom italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi vorgeschlagenen Verfassungsreform in Italien könnten eine Tragweite haben wie der Austritt der Briten aus der Europäischen Union. Die Krise der EU hat sich mit dem Ergebnis noch einmal deutlich verschärft.

„FPÖ IST SALONFÄHIG“

Dass am Ende Norbert Hofer bei der österreichischen Präsidentschaftswahl unterlag, sollte man nicht vorschnell als „Niederlage“ oder „Pleite“ der FPÖ werten. Der beträchtliche Zuspruch für den freiheitlichen Kandidaten spricht eher für einen wichtigen Etappensieg seiner Partei. Auch weil Van der Bellens Erfolg erst durch einen enormen Kraftakt des versammelten Establishments möglich wurde.

AUF DEM PRÜFSTAND

Ein breites Bündnis aus Bürgerinitiativen, Datenschützern, Politikern und prominenten Persönlichkeiten hat in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde gegen das neue Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung eingelegt. Über 32.000 Bürger schlossen sich an. Wie stehen die Chancen?

TRUMPS CHEFETAGE

Das konservative US-Nachrichtenportal Breitbart zählte im vergangenen US-Wahlkampf zu den wenigen Medien, die Donald Trump und seine Positionen offen unterstützten. Diese Nähe kommt nicht von ungefähr. Stephen Bannon, Vorstandsvorsitzender bei Breitbart, ließ sich sogar freistellen, um in Trumps Wahlkampfteam anzuheuern. Nun wird er Chefberater des neuen Herrn im Weißen Haus. Ex-Goldman Sachs, Medienprofi, Politberater: Wer ist Stephen Bannon?

„POPULISTISCHE REVOLTE“

Wie lässt sich der enorme Wählerzulauf für AfD, FPÖ und Co. erklären? Eine Bertelsmann-Studie glaubt, dass „Globalisierungsängste die treibende Kraft hinter der populistischen Revolte“ in Europa seien. Doch solche Unterstellungen sind kein adäquater Ersatz für notwendige politische Korrekturen, allein schon, weil fast die Hälfte aller EU-Bürger nach Bertelsmann-Kriterien zu den Globalisierungskritikern zählt …

SIE HABEN NOCH NICHT GENUG

Noch immer begeistert die schon zu DDR-Zeiten legendäre Rockband „Stern-Combo Meißen“ viele Musikfreunde. Auch beim Auftritt in der Dresdner Lukaskirche am ersten Adventssonntag erreichte die Band die Herzen der Zuhörer. Eindrücke von einem „Artrock“-Konzert.

SO KLINGT 1848

Albert Lortzing schrieb seine mit stark autobiographischen Zügen versehene Oper „Regina“ sozusagen im Pulverdampf von 1848. Deshalb wird das selten aufgeführte Werk auch oft als „Revolutionsoper“ bezeichnet. Dabei passt der Name „Freiheitsoper“ besser, denn dem schwarz-rot-goldenen Patrioten ging es nicht um einen totalen Umsturz, sondern um die Garantie der „März-Errungenschaften“, wie sie sein Freund Robert Blum einforderte.

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