Nr. 36 vom 2.9.2016

Nr. 36 vom 2.9.2016

Standpunkt

„Geschichtsdaten kann ich nicht behalten“

Walter Scheel, Bundespräsident von 1974 bis 1979, ist im Alter von 97 Jahren gestorben. In dem Buch „Die Bundespräsidenten – Biographien eines Amtes“ des Bonn-Kenners Günther Scholz hieß es 1996 zutreffend: „Walter Scheel hat wesentlichen Anteil am Sturz des Bundeskanzlers Ludwig Erhard im Herbst 1966.“ Als Scheel 1968 an die Spitze der FDP gelangte, war er der Nachfolger Dr. Erich Mendes. Scheel und andere hatten Mendes Position planmäßig untergraben, bis dieser auf eine erneute Kandidatur für den Parteivorsitz verzichtete.

1976 berichtete der „Spiegel“, was Scheel an Hans-Dietrich Genscher kritisierte, der ihn 1974 als Außenminister und als FDP-Vorsitzender abgelöst hatte: „In der Außenpolitik kreidet Scheel dem AA-Chef an, dass er die von ihm gemeinsam mit Brandt betriebene Ostpolitik zu halbherzig weiterverfolge. Genscher hingegen wirft seinem Amtsvorgänger allzu große Konzilianz gegenüber den Sowjets vor. Zum Beispiel ärgerte den Außenminister, dass Scheel im vergangenen Jahr bei einem gemeinsamen Moskau-Besuch die Großzügigkeit der Sowjets bei Ausreisegenehmigungen für Deutsche lobte, obwohl in den vom AA für ihn präparierten Akten gerade das Gegenteil belegt war.“

In der Ansprache, die Scheel am 17. Juni 1986 zur Feier des Tags der deutschen Einheit im Bundestag hielt, versuchte der nunmehrige Ex-Bundespräsident, seine Landsleute auf den Fortbestand der Teilung Berlins und der Grenze an Elbe und Werra einzustimmen, die doch drei Jahre später fallen sollte. Scheel meinte damals: „33 Jahre sind seit dem 17. Juni 1953 vergangen. Wie oft werden wir uns noch versammeln, um am Tage der deutschen Einheit des Volksaufstandes in der DDR zu gedenken? Unsere Hoffnungen sind leiser geworden. Damals dachten die Realisten, 20, 25, 30 Jahre werde es schon dauern, bis wir wieder vereint sein würden. 33 Jahre sind vergangen, und wir sind von der Einheit genauso weit entfernt wie damals. Und, gestehen wir es uns ein, gewöhnen wir uns in unserem täglichen Leben nicht daran? Die Teilung hat uns viele Schmerzen bereitet. Schmerzt sie uns noch? Und wenn sie uns nicht mehr schmerzt – oder wenn sie uns weniger schmerzt: Ist es sinnvoll, alte Schmerzen wieder aufzurühren?“ Scheel setzte sogar noch hinzu: „Die Welt hat heute andere Sorgen.“

Wer wissen will, welche Art Sorgen Walter Scheel intensiv bewegte, kann es in dem Gesprächsbuch „Spaziergänge mit Prominenten“ von Ben Witter nachlesen. Dem Journalisten bekannte Scheel 1980, „dass er sich morgens im Bett überlegt, was er nachher anzieht“. Dass seine Hosenbeine 48 Zentimeter („ein tragbarer Mittelwert“) breit seien, wusste Scheel auswendig. Außerdem: „Wenn ich wieder voller werde oder abnehme, die entsprechenden Anzüge warten im Schrank“. Und Koffer würden „von mir geradezu wissenschaftlich gepackt“. In derselben Unterhaltung räumte Scheel ein: „Geschichtsdaten kann ich nicht behalten.“

Dass ein Mann mit solchen Interessenschwerpunkten nicht Generaldirektor, Herrenausstatter oder, wie er sich nach dem Krieg vorstellte, Hotelportier geworden ist, sondern fünf Jahre die deutsche Außenpolitik leitete und danach sogar an der Spitze des Staates stand, ist bemerkenswert. Noch bedenklicher ist es, wenn der Historiker Arnulf Baring wiederholt die Ansicht vertrat, dass man Scheel „geradezu als Mr. Bundesrepublik bezeichnen könnte“.

Übrigens sprach Scheel gegenüber Ben Witter auch über seine zahlreichen Ehrenämter. Dabei erwähnte er unter anderem die Stellung als Vorsitzender der Bilderberg-Konferenz. An der Spitze dieser international unter dem Siegel der Verschwiegenheit Themen setzenden Einrichtung war er von 1980 bis 1985 tätig. Keine zwei Monate vor seiner Rede zum Tag der deutschen Einheit hatte Scheel zudem an der Bilderberg-Konferenz 1986 teilgenommen. Meinte er daher am 17. Juni 1986 so genau zu wissen, welche „anderen Sorgen“ als die deutsche Teilung „die Welt“ damals hatte oder haben sollte?

Karl Diefenbach

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 2. September 2016

ZWEIERLEI MAAS

Bundesjustizminister Heiko Maas lobt die antideutsche Punkband „Feine Sahne Fischfilet“ und verdeutlicht damit, wes Geistes Kind er ist. Textprobe der Formation, die nach Ansicht des Verfassungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern Gewalt für ein legitimes Mittel der Auseinandersetzung hält: „Deutschland verrecke, das wäre wunderbar.“

WIE GEFÄHRDET IST DEUTSCHLAND?

Die Sorge vieler Bürger wegen der wachsenden Terrorgefahr wurde durch die von der Bundesregierung beschlossene „Konzeption zivile Verteidigung“ nicht gerade gedämpft. Was hinter dem neuen Zivilschutzkonzept steckt und wem es etwas bringt.

DOPPELPASS

Wählertäuschung oder Schlingerkurs: Die CDU thematisiert die Zunahme doppelter Staatsbürgerschaften, die man selbst ermöglicht hat. Kann die Union damit der AfD das Wasser abgraben?

„2017: KRIEG MIT RUSSLAND“

NATO-General Richard Shirreff warnt vor einem Krieg mit Russland, zu dem er gleichzeitig mit einer im Juli veröffentlichten Studie für den „Atlantic Council“ treibt. Welche Rolle Polen in der Strategie der USA zugedacht ist und wie die NATO der Rüstungsindustrie volle Auftragsbücher beschert.

FAKTENWISSEN HAT AUSGEDIENT

Geschichtsunterricht heute: Es stehen keine genauen Inhalte auf dem Lehrplan, sondern Themenfelder, innerhalb derer die Schüler „interpretative, narrative und geschichtskulturelle Kompetenzen“ erwerben sollen. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielschichtig, haben mit der Internationalisierung des Wettbewerbs zu tun, der digitalen Revolution, aber auch mit ideologischen Überlegungen.

MÄUSELEBEN IM SOZIALISMUS

Jedes Kind „im Osten“ kannte sie: Fix und Fax, die frechen Mäuseknaben, waren in der DDR genauso beliebt wie die „Mosaik“-Helden Abrafaxe oder ihre Vorläufer, die Digedags. Ihr Schöpfer Jürger Kieser feierte in diesen Tagen seinen 95. Geburtstag.

LÖNS UND DIE LIEBE

Anna, Marianna, Rose Marie, Annemarie, Swaantje, Annemieken … Die Liste der Frauen, die Hermann Löns besungen hat, ist lang. Dass der berühmte Heidedichter ein Frauenheld war, dass er gerne und oft zu viel trank, ist kein Geheimnis. Über seine Ehe mit Lisa Hausmann ist hingegen manches unbekannt. Der Heidedichter und die Pazifistin.

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