Nr. 33 vom 11.8.2017

Nr. 33 vom 11.8.2017

Standpunkt

Faktencheck: Wenn Medien in ihrer neuen Vorzeigedisziplin versagen

Mit der Dauerkolumne „Früher war alles schlechter“ und Beiträgen wie dem Essay „Sagen, was gut ist – wider die Übermacht des Pessimismus“ in der Ausgabe vom 5. August erfüllt der „Spiegel“ eine wichtige Funktion für den Machterhalt der Kanzlerin und ihrer politischen Freunde. Früher war alles schlechter (zum Beispiel das Mittelalter dunkel, der Kaiser ein Dilettant und Politikversagen vor unserer Zeit …) – das ist der Eindruck, mit dem Herrschende aller Epochen sich ins rechte Licht zu rücken suchten. Nacht soll es sein, damit ihre Sterne strahlen!

Der Beitrag gegen den „Pessimismus“, verfasst von „Spiegel“-Redakteur Guido Mingels, kommt auch sehr rasch zum Punkt. Medien seien „immer öfter damit beschäftigt, die schlechten Botschaften von anderen zu überprüfen – und als Unwahrheiten zu entlarven. Rechte Populisten wie Trump, Wilders, Le Pen oder Erdoğan haben damit die Rolle des klassischen Boulevard übernommen: Sie befeuern die Öffentlichkeit mit herbeigelogenen Horrorthesen, und die Medien schreiben als Faktenchecker hinterher und versuchen zu kitten, was zerschlagen wurde.“ Damit wäre die Welt schön schwarz-weiß.

Schlag nach in der New York Times

Tatsächlich aber waren es führende deutsche Medien, die zum Beispiel im Zuge der „Flüchtlingskrise“ 2015/2016 ihre Rolle verfehlten, wie der Journalismusforscher Professor Michael Haller unlängst nachwies. In seiner Studie findet sich auch der bemerkenswerte Satz: „Dass die Leitmedien […] in ihrer Berichterstattung auf die politische Elite fixiert zu sein scheinen, ist nicht neu, sondern wurde wiederholt untersucht und bestätigt.“

Doch so weit muss man bei dem Beitrag von Guido Mingels gar nicht gehen. Denn gleich im nächsten Absatz ruft er aus: „Nein, Herr Wilders, es stimmt nicht, dass Millionen Afrikaner bald die Reise nach Europa antreten wollten.“ Und im folgenden Satz lobt der „Spiegel“-Redakteur die Aufklärungsarbeit der „New York Times“.

Da der Mann ein so eifriger Leser der „New York Times“ ist, hätte ihm der Bericht „A Mass Migration Crisis, and It May Yet Get Worse“ des mehrfach ausgezeichneten Korrespondenten Rod Nordland in der Ausgabe vom 1. November 2015 auffallen können. In dem Artikel heißt es: „Das Bemerkenswerteste an der gegenwärtigen Migrationskrise ist, um wie viel größer sie noch werden kann.“ Autor Nordland zählte zunächst allerlei Gruppen auf, die demnächst – wie bereits Syrer, Eritreer oder Afghanen – ihre Koffer packen könnten. Am Ende des NYT-Beitrags hieß es: „Europäische Politiker sollten nicht nur den Nahen Osten und Nordafrika im Auge haben. Die Gallup-Umfrage, die auf Daten aus 450.000 Interviews in 151 Staaten in den Jahren 2009 bis 2011 basiert, erbrachte, dass in Nigeria, das schon doppelt so viele Einwohner hat wie Deutschland, 40 Prozent der Menschen in den Westen emigrieren würden, wenn sie könnten.“ Das bedeutet nichts anderes, als dass Millionen Nigerianer die Reise nach Europa antreten wollen – und zwar wenn und sobald es geht. Inwieweit es geht, ist wiederum eine Frage der Politik in Europa – und Wilders arbeitet bekanntlich nicht dafür, dass es so leicht geht.

Brustton der Überzeugung reicht nicht

Man muss also noch nicht einmal ganz Afrika in den Blick nehmen, um die angeblich unwahre Aussage bestätigt zu finden, und man braucht dazu nur die „New York Times“. Der „Faktencheck“ ist halt doch noch etwas anderes als „Optimismus“ und ein im Brustton der Überzeugung vorgebrachtes „Nein, Herr Wilders, …“.

Ulrich Wenck

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 11. August 2017

PALMER UND DIE GRENZEN DER BELASTBARKEIT

Tübingens querdenkender Oberbürgermeister Boris Palmer ist die vernünftige Stimme aus den Reihen der „Grünen“ in der Debatte um Migration und Asyl. Seine kritischen Äußerungen und die Erfahrungen, die er nun in Buchform zusammengefasst hat, lassen aber die Frage offen: Warum hält er der Partei noch die Stange? Eine Rezension.

NACH DEM GIPFEL

Der Diesel-Gipfel in Berlin endete so, wie man es von einem Krisengespräch zwischen Politik und Wirtschaft kennt: Die Regierungsvertreter wurden mit einem halbgaren Kompromiss abgespeist, der ihnen eine minimale Gesichtswahrung und der Industrie ein „Weiter so“ ermöglicht.

VON AMPELFRAU BIS WILLKOMMENSKULTUR

5.000 neue Wörter enthält die aktuelle, am 9. August erschienene Auflage des Duden. Von denen haben es „Darknet“, „chillig“, „Fake News“, „postfaktisch“ und „tindern“ zum Aufhänger der Werbekampagne gebracht. Was der neue Duden über Politik und Gesellschaft aussagt.

WARUM LIESS MAN AHMAD A. EINREISEN?

Das Messer-Attentat von Hamburg verdeutlicht das Scheitern der Asylpolitik – das hat Auswirkungen auf die Bundestagswahl.

WER CSU WÄHLT, BEKOMMT MERKEL

Was die Christsozialen konservativen Wählern anbieten wollen, aber mit der Merkel-CDU nicht in einem gemeinsamen Wahlprogramm unterbringen können, haben sie in den „Bayernplan“ gesteckt.

„DIE WELT STEHT AUF DEM KOPF“

Mick Jagger, Frontmann der „Rolling Stones“, hat zwei neue Solostücke veröffentlicht, die nicht nur in Großbritannien, sondern auch bei uns für Diskussionen sorgen. Was der Künstler mitzuteilen hat.

SCHWINDENDE ARTENVIELFALT

Der Naturschutzbund Deutschland (NABU) warnt vor einem dramatischen Rückgang der Fluginsekten. Wo es keine Insekten, Vögel und intakte Landschaft mehr gibt, wird es auch für die Menschen unwirtlich. Eine grundlegende Agrarreform ist das Gebot der Stunde.

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