Nr. 26 vom 23.6.2017

Nr. 26 vom 23.6.2017

Standpunkt

Stichwort „Overblocking“

Heiko Maas’ Entwurf zu einem Netzwerkdurchsetzungsgesetz, landläufig „Facebook-Gesetz“ genannt, verstößt gegen das Grundgesetz, also die höchste in der Bundesrepublik in Geltung stehende Norm. Das ist das brisante Ergebnis einer 16-seitigen Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 12. Juni 2017. Eine zentrale Rolle spielt darin der von den hohen Bußgeldandrohungen ausgehende Einschüchterungseffekt, der bewirken werde, dass soziale Netzwerke auch legale Inhalte entfernen.

Gegenstand der Ausarbeitung mit dem Aktenzeichen WD 10 – 3000 – 037/17 ist die Frage, ob der vom Bundeskabinett am 5. April 2017 verabschiedete und von den Fraktionen von CDU/CSU und SPD am 19. Mai 2017 in den Bundestag eingebrachte Entwurf eines „Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken“ (NetzDG) mit der verfassungsrechtlich verankerten Meinungsfreiheit vereinbar ist. Der Gesetzentwurf beinhaltet Regeln für die Betreiber sozialer Netzwerke mit im Inland mehr als zwei Millionen Nutzern und soll – nach offizieller Lesart – bewirken, dass Beschwerden im Zusammenhang mit bestimmten rechtswidrigen Inhalten (die Entwurfsbegründung spricht von „Hassrede“ und „strafbaren Falschnachrichten“) schneller und umfassender bearbeitet werden. Wie am 19. Juni bekannt wurde, zweifelt inzwischen sogar die EU-Kommission die Verhältnismäßigkeit des geplanten Gesetzes an. Am 1. Juni hatte bereits der Sonderbeauftragte der UNO für die Meinungsfreiheit, David Kaye, schwere Bedenken geäußert – einschließlich der Befürchtung, dass die hohen Bußgelder zur Löschung rechtmäßiger Inhalte führen werden. Das Gesetz wird aber voraussichtlich dennoch vor der Bundestagswahl – möglicherweise mit einigen Abmilderungen – verabschiedet werden. Dies schließt keineswegs aus, dass es den dann Verantwortlichen zu einem späteren Zeitpunkt vom Bundesverfassungsgericht wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz um die Ohren gehauen wird.

Löschung rechtmäßiger Inhalte?

Kern des Gesetzentwurfes ist der § 3. Dessen Absatz 1 verpflichtet Anbieter sozialer Netzwerke dazu, ihren Nutzern ein wirksames und transparentes Verfahren für den Umgang mit Beschwerden über rechtswidrige Inhalte zur Verfügung zu stellen. Gemäß Absatz 2 muss dieses Verfahren gewährleisten, dass der Anbieter des sozialen Netzwerks unverzüglich von der Beschwerde Kenntnis nimmt und prüft, ob der Inhalt rechtswidrig und zu entfernen oder der Zugang zu ihm zu sperren ist. Offensichtlich rechtswidrige Inhalte sind innerhalb von 24 Stunden nach Eingang der Beschwerde zu entfernen beziehungsweise zu sperren. Im Übrigen gilt eine Frist von sieben Tagen.

Das Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste geht davon aus, dass die Vorgaben des geplanten Netzwerkdurchsetzungsgesetzes eine dem Staat zurechenbare Grundrechtsbeeinträchtigung zu Lasten der Nutzer sozialer Netzwerke darstellen: „Kritiker sehen aufgrund der festen – insbesondere kurzen – Löschfristen und der hohen Bußgeldandrohung (bis zu 5 Mio. Euro bzw. 50 Mio. Euro) bei Nichteinhaltung der Regelungen des § 3 NetzDG-Entwurf eine Gefahr für die Meinungsfreiheit. Derartige – in vielen Fällen auch existenzbedrohende – Bußgeldandrohungen erhöhten das Risiko, dass Unternehmen ohne sorgfältige vorherige Prüfung und vor allem in Zweifelsfällen auch legale Inhalte entfernten (sog. ‚Overblocking‘). In der Bußgeldandrohung wird somit auch ein Einschüchterungseffekt (Chilling-Effekt) gesehen, dass aus Angst vor Sanktionen auch rechtmäßige Äußerungen gelöscht werden.“

Die Ausarbeitung bezieht sich auf die Medienrechtler Jörg Wimmers und Britta Heymann und deren im renommierten „Archiv für Presserecht“ erschienene kritische Stellungnahme zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Wimmers und Heymann wiesen „auf die einschränkenden Effekte für die Meinungsfreiheit hin, welche durch die hohe Wahrscheinlichkeit der Entfernung zulässiger Inhalte zu erkennen und zu erwarten seien. Die Meinungsfreiheit sei demnach bereits aufgrund der zu kurzen Prüfungsfristen nicht gewährleistet.“

Das Zwischenergebnis der Wissenschaftlichen Dienste lautet: „Die Vorgaben geben zahlreiche und nachhaltige Anreize für Diensteanbieter, als private zwischengeschaltete Instanz vorsorglich Inhalte zu löschen oder zu sperren, welche sich in einer gerichtlichen Überprüfung als rechtmäßig erweisen könnten. Eine dem Staat zurechenbare Grundrechtsbeeinträchtigung ist zu erwarten.“

Unverhältnismäßig

Bei der anschließenden Prüfung, „ob der Eingriff in die Meinungsfreiheit verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist“, bemängeln die Bearbeiter, dass „bestimmte rechtswidrige Inhalte bzw. bestimmte Meinungen stärker geahndet“ würden als andere. Endgültig scheitert der Gesetzentwurf aber an der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Um verhältnismäßig zu sein, müsste der Grundrechtseingriff nämlich zur Erreichung eines legitimen Zwecks nicht nur geeignet, sondern auch erforderlich und angemessen sein. Die beiden letzteren Voraussetzungen werden von den Wissenschaftlichen Diensten verneint. „Mit Blick auf die Gefahr des Overblockings für die Meinungsfreiheit und eine voraussichtlich nicht unerhebliche Zahl von Betroffenen“ sprächen „gute Gründe für die Wahl eines milderen Mittels in Form von unabhängigen Selbstkontrolleinrichtungen, da diese bereits eine zufriedenstellende Zweckerreichung gewährleisten können“. Solche Selbstkontrolleinrichtungen hatte schon der Deutsche Anwaltverein vorgeschlagen.

KD

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 23. Juni 2017

EFFEKTIV GEGEN TODESRASER!

Wieder ist bei einem illegalen Straßenrennen ein Fußgänger getötet worden, diesmal in Mönchengladbach. Um die Raser zu stoppen, muss der polizeiliche Druck erhöht werden. Dabei ist allerdings gezieltes Vorgehen notwendig.

KOHLS GRÖSSTER FEHLER …

… regiert heute Deutschland. Der verstorbene Altkanzler konnte „Vaterland“ sagen. Ein Satz wie „Gott segne unser deutsches Vaterland“ ging ihm leicht von den Lippen. Angela Merkel hingegen würde sich eher die Zunge abbeißen. Warum durchschaute Helmut Kohl sie nicht?

„IDENTITÄRE“ BEWEGEN BERLIN

An die Tausend vor allem junge Menschen folgten am 17. Juni dem Ruf der „Identitären Bewegung“ zur Demonstration in der Hauptstadt unter dem Motto „Zukunft Europa – verändern und bewegen“. Sie ließen sich auch durch stundenlange Blockaden das demokratische Recht nicht nehmen, ihre Forderungen auf die Straße zu bringen.

WÄHLERSTREIK UND SCHERBENGERICHT

Sowohl die acht Mandate des „Front National“ als auch die absolute Mehrheit für Emmanuel Macron in Frankreichs Nationalversammlung werden in den Schatten gestellt von einer anderen Zahl: Der historisch niedrigen Wahlbeteiligung, die nicht nur Schwächen des Wahlsystems aufzeigt, sondern auch, dass Macron nicht als der Heilsbringer betrachtet wird, als den ihn viele Medien inszenieren.

WIE GUT IST UNSER TRINKWASSER?

Am 9. Juni ließ das Umweltbundesamt als zentrale Umweltbehörde der Bundesrepublik Deutschland mit einer Warnung aufhorchen: Trinkwasser könnte in etlichen Regionen Deutschlands in Zukunft spürbar teurer werden. Grund sei die hohe Belastung des Grundwassers mit Nitrat.

VON DER AFD MISSBRAUCHT?

„Neue Deutsche?“ Machen wir selber! Mit ihrer unlängst vorgestellten Plakatserie zur Bundestagswahl setzt die Alternative für Deutschland auf Humor; sehr zum Unwillen tonangebender Miesepeter. Was hinter der Kampagne steckt.

GELEHRSAMKEIT UND KRITISCHES DENKEN

Peter Sloterdijk zählt nicht nur zu den wenigen originären Denkern der Republik, man kann ihn auch nicht in Schubladen einordnen. Zu vielschichtig, zuweilen auch widersprüchlich erscheinen seine Ansichten. In diesen Tagen wird der Philosoph siebzig Jahre alt.

Nach oben