Nr. 24 vom 9.6.2017

Nr. 24 vom 9.6.2017

Standpunkt

Umbenennung des Nachtigalplatzes:
Roh gegen einen Einfühlsamen

Deutsche Gründlichkeit und „German Efficiency“ in einer schlimmen Ausprägung zeigen sich, wenn Mitbürger, die einer Berufung zur Politik folgen, sich in eine Ideologie hineinsteigern. Wie man auf dem Höhepunkt des Dritten Reiches, 1939, auf die Idee kam, dem „Kolonialpionier“ Dr. Carl Peters in der Hauptstadt eine Straße zu widmen (obwohl schon Ludwig Thoma 1907 im Simplicissimus über Peters das gereimte, aber durchaus begründete Urteil getroffen hatte: „Hinter Wortschwall, hinter Phrasen, steckt ein rohes Menschenbild.“), so hat jetzt die ebenso abwegige Absicht Gestalt angenommen, den Nachtigalplatz im Berliner Wedding seines Namens zu entkleiden.

Dabei war Gustav Nachtigal ein vornehmer Charakter. Sogar der „Spiegel“ verteidigte den Sklavereigegner Nachtigal 2016 dagegen, ein „Finsterling“ gewesen zu sein, und kam zu dem Ergebnis: „Aus politischer Korrektheit Gustav-Nachtigal-Straßen oder -Plätze umzubenennen – das erscheint ein wenig albern.“ Nach dem Willen der Berliner Bezirksverordnetenversammlung Mitte sollen nun auch die Lüderitzstraße und die Petersallee fallen, obwohl letztere bereits 1986 umgewidmet wurde und seitdem an den Juristen Professor Hans Peters erinnert, ein Mitglied des widerständigen Kreisauer Kreises, das nach dem Krieg in Berlin CDU-Politiker und Dekan und später in Köln Universitätsrektor war.

Wird der Nachtigalplatz umbenannt, ist dies freilich nicht nur albern, sondern auch eine Verzerrung des Lebensbildes von Gustav Nachtigal und ein Angriff auf dessen postmortales Persönlichkeitsrecht, das ein Ausfluss der grundgesetzlich verbürgten Menschenwürde ist.

Ein hervorragender Kenner von Leben und Werk des Afrikaforschers ist der 1933 in Neuseeland geborene Historiker Humphrey J. Fisher, der seine akademische Karriere an der renommierten Londoner Universität „School of Oriental and African Studies“ verbracht und Nachtigals Werk ins Englische übersetzt hat. Die Beschreibung der über 10.000 Kilometer langen, fünfeinhalbjährigen Reise durch die Sahara und den Sudan sei eine der wichtigsten Quellen über Afrika im 19. Jahrhundert und „von größerem Wert als die meisten Berichte berühmter britischer Forscher“, so Fisher. „Nachtigal bietet außerdem kritische historische Einblicke in viele gegenwärtige Herausforderungen, in Dafur, im Tschad und in Libyen. Es ist zum Beispiel nicht übertrieben zu sagen, dass seine Berichte über das Volk der Tubu von enormer Wichtigkeit sind, will man die bewegte Geschichte des Tschads seit der Unabhängigkeit 1960 und auch das Libyen nach Gaddafi verstehen.“

Das „International Journal of Middle East Studies“ kommt zu einer ähnlichen Einschätzung: „Gustav Nachtigal zählt zu den bedeutendsten Afrikareisenden aufgrund des Umfangs, der Genauigkeit und Exaktheit seiner Beobachtungen und aufgrund des Mitgefühls, das er denen entgegenbrachte, in deren Mitte er sich bewegte.“

Dieses Mitgefühl wird Nachtigal mehrfach attestiert und tatsächlich liest man trotz der Bedrohungen, Angriffe und Misshandlungen, die er als Reisender von Einheimischen während seiner Expeditionen zwischen 1869 und 1874 erfuhr, keine Pauschalvorwürfe und Anklagen aus seinen Berichten. Zu seinem 100. Geburtstag hieß es in der Zeitschrift „Der Schweizer Geograph“ über den 1834 in der Altmark geborenen studierten Arzt, der an Tuberkulose erkrankt 1862 zunächst nach Nordafrika ging: „Dankbarkeit über die wiedererlangte Gesundheit, neuerworbene Freunde, der natürliche Reichtum, das glückliche Klima und die unverfälschte Eigenart von Land und Volk fesselten den jungen Mediziner, der als Leibarzt des bedeutendsten tunesischen Ministers bald zu hohem Ansehen und ausgedehnter Praxis gelangte.“ Und: „Sich einfühlend in den Charakter und die Art der Völker, unter denen er lebte, ihre Sprache vollkommen beherrschend, wandelt unser deutscher Doktor rascher auf jenem Wege vor“, nämlich „durch das seltsam bunte und verworrene und doch nach einem großen Gedanken dahinströmende arabisch-maurische Leben“. Als erster Europäer wagte er sich in das Hochland von Tibesti im heutigen Tschad, fand in Kuka (heute Nigeria) im Scheich Omar „einen großmütigen Freund“ und selbst in Wadai (heute Tschad) konnte er „den gefürchteten Christenhasser Sultan Ali“ für sich einnehmen.

In der „Neuen Deutschen Biographie“ schreibt der Wissenschaftshistoriker Prof. Claus Priesner über Nachtigals Werdegang nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1874: „1882 wurde er zum Generalkonsul des Deutschen Reichs in Tunis ernannt, 1884 entsandte man ihn als Reichskommissar nach Westafrika.“ Die deutschsprachige Wikipedia zieht Nachtigals Briefe und Tagebucheinträge heran, um sein Widerstreben zu verdeutlichen. „Lediglich die Hoffnung, durch eine europäische Intervention dem Sklavenhandel einen Riegel vorzuschieben, ließ ihn Bismarcks Auftrag annehmen.“ Am 20. April 1885 erlag Gustav Nachtigal an Bord der „SMS Möwe“ auf der Rückreise nach Europa der Malaria. Seine letzte Ruhe fand er 1888 vor dem ehemaligen Regierungsgebäude in Kamerun.

Jürgen Schwaiger

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 9. Juni 2017

AFGHANISTAN IST GROSS

Die Bundesregierung hat Rückführungen abgelehnter Asylbewerber nach Afghanistan ausgesetzt. Die jetzige Wende wird mit dem Anschlag in Kabul begründet. Aber Afghanistan ist groß –  34 Provinzen mit zusammen 650.000 Quadratkilometern.

„PAKT MIT DEM TEUFEL“

Die Vereinigten Staaten von Amerika und Saudi-Arabien rücken gegen den Iran enger zusammen. Welche Strategie verfolgt US-Präsident Donald Trump in diesem Zusammenhang? Dr. Bernhard Tomaschitz beleuchtet die Zusammenhänge.

DIGITALER GOLDRAUSCH

Soll man auf den US-Dollar setzen, den Schweizer Franken, das Britische Pfund oder doch lieber auf den Euro? Immer mehr Investoren griffen zuletzt zu einer dezentralen Währung, die weltweit verfügbar ist und für deren Erwerb man keine Banken in Anspruch nehmen muss. Das Auf und Ab der Internetwährung „Bitcoin“.

ZUM FALL AMRI

Die Berliner Polizei hat nach Lage der Dinge im Fall des tunesischen Attentäters Anis Amri Fehler gemacht. Doch das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Eine unvoreingenommene Analyse des Falles wirft in erster Linie Fragen zu der politischen Verantwortung auf.

KEIN KINDERSPIELZEUG

Eine aktuelle Studie kommt zu dem Ergebnis, dass durch intensive Smartphone-Nutzung bei Kindern und Jugendlichen das Risiko unter anderem von Konzentrationsstörungen und Hyperaktivität steigt. Welche Gefahren drohen noch? Dazu der Kommentar „Quer gedacht“.

INKLUSION: MANGELHAFT

Für die gemeinsame Unterrichtung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderungsbedarf und Schülern, die einen solchen nicht haben, zahlen Pädagogen und Kinder einen hohen Preis. Es fehlt an Ausstattung, Ressourcen und Personal.

NIEDERGANG ALS CHANCE

Wieder verabschiedet sich ein Traditionsverein aus dem Fußball-Oberhaus. Der Abstieg von 1860 München unterstreicht den Wandel, den der frühere Volkssport insgesamt erlebt. Große Klubs können finanziell nicht mehr mithalten und dümpeln in dritter, vierter oder fünfter Liga herum. Was kann die Münchner Löwen retten?

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