Nr. 21 vom 19.5.2017

Nr. 21 vom 19.5.2017

Standpunkt

Polizei als Sündenbock

Im Fall Anis Amri macht nun landauf landab das Wort vom „Staatsversagen“ die Runde. Und Berlins Innensenator Andreas Geisel, sozialdemokratischer Ressortchef in einer rot-rot-grünen Koalition, würde daraus gerne ein Polizeiversagen machen. Aber das eine ist bei weitem zu pauschal und auch das andere trifft es nicht. Es lohnt sich vielmehr, einmal genauer darüber nachzudenken, welche der Verhaltensweisen, die dazu führten, dass Amri am 19. Dezember 2016 den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche verüben und zwölf Menschen töten konnte, struktureller Natur sind und die Gefahr erst schufen. Und welche nur akzidentiell sind, weil sie lediglich den bereits in Gang gesetzten Ablauf nicht mehr stoppten und zudem in der Situation schon angelegt waren.

Warum die Zeituhr tickte

Und da zeigt sich, dass die Zeituhr tickte, seit Amri im Sommer 2015, gerade aus italienischer Haft entlassen, über die Schweiz in die Bundesrepublik einreiste, um dann erst in Freiburg im Breisgau polizeilich erfasst zu werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Bundesinnenminister de Maizière die Bestimmung im deutschen Asylgesetz, wonach an der Grenze die Einreise zu verweigern ist, wenn jemand allein unter Berufung auf einen Asylwunsch über einen sicheren Drittstaat wie die Schweiz ins Bundesgebiet einreisen will, noch nicht außer Kraft gesetzt. Aber die Einreiseverweigerung fand mangels Kontrollen nicht statt. Und seit es wieder Grenzkontrollen gibt – 13. September 2015 –, ist die Weisungslage gegen den Willen des Bundespolizeichefs Romann so, dass die Bundespolizei keine Zurückweisung an der Grenze vornehmen darf, sobald jemand Interesse an Schutz oder Asyl in der Bundesrepublik bekundet. Mal ganz davon abgesehen, dass die Grenze zur Schweiz weiterhin praktisch nicht kontrolliert wird.

Dieser, von dem 1993 umgesetzten Asylkompromiss komplett abweichenden Handhabung der deutschen Grenze ist es wesenseigen, dass weiterhin Leute ins Bundesgebiet einreisen, über deren Vorgeschichte es keinerlei Erkenntnisse gibt – die etwa, wie Anis Amri, der bereits in Tunesien in Abwesenheit wegen Raubes zu fünf Jahren Haft verurteilt worden ist, schon in ihrer Heimat viel Unheil anrichteten.

Unter besseren Voraussetzungen vielleicht

Wie die Polizeiliche Kriminalstatistik für 2016 kürzlich offenbarte, war die Polizei in dem Jahr des Amri-Anschlags damit konfrontiert, dass es 52,7 Prozent mehr tatverdächtige Zuwanderer als im Vorjahr gab. Da wirkt es schon etwas billig, wenn Politiker der Parteien, die eine aus polizeilicher Sicht kaum zu meisternde Gesamtsituation herbeigeführt haben, dann mit dem Finger auf die Polizei deuten: Diese hätte Amri doch „schon im November 2016“ wegen gewerbsmäßigen Drogenhandels verhaften können – und der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt einen Monat später wäre unterblieben … Das wäre ein schöner Zufall gewesen, der bei optimalem Verlauf und unter besseren Voraussetzungen als denen, unter denen die Polizei inzwischen arbeiten muss, die furchtbare Tat hätte abwenden können. Aber die Wurzel des Problems ist mit solchen „Analysen“ kaum angesprochen, sondern eher verdeckt.

Ulrich Wenck

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 19. Mai 2017

NEUE LEYEN-OPFER

Als am 29. Mai 1970 – Helmut Schmidt war Verteidigungsminister – die Kaserne im niedersächsischen Delmenhorst nach Feldwebel Diedrich Lilienthal benannt wurde, da hatte man auch die Mutter des 1944 im Alter von 23 Jahren gefallenen Namensgebers eingeladen. Nun aber will Ursula von der Leyen „an das Thema Kasernennamen ran“.

DIE BOSBACH-MASCHE

Nicht nur die von Medien erfundene „Wunderwaffe aus Würselen“, die wieder einmal nach hinten losging, sondern auch die Chuzpe von Angela Merkel und Armin Laschet, ihren parteiinternen Talkshow-Widersacher Wolfgang Bosbach im Wahlkampf wie eine Monstranz vor sich herzutragen, trug der CDU in Nordrhein-Westfalen den Wahlsieg ein. Aber welches „Angebot“ macht Laschet dem Bürger wirklich?

UMBRUCH IN WIEN

Österreichs Außenminister Sebastian Kurz ist neuer ÖVP-Chef und Spitzenkandidat bei der am 15. Oktober 2017 stattfindenden Nationalratswahl. Ungeachtet seines jugendlichen Alters hat er weit mehr Profil als der zurückgetretene Parteiobmann, Ex-Vizekanzler Reinhold Mitterlehner.

STÜRZT TRUMP ÜBER „RUSSIA-GATE“?

Die Entlassung von FBI-Direktor James Comey hat die „Russia-Gate“-Vorwürfe weiter angeheizt. Trumps scharfe Kritiker streben ein Amtsenthebungsverfahren an. Dr. Bernhard Tomaschitz analysiert.

SCHLAPPE FÜR EU-KOMMISSION

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 10. Mai 2017 ist eine Ohrfeige für die EU-Kommission. Der Beschluss, die geplante Europäische Bürgerinitiative unter dem Titel „Stop TTIP“ nicht zuzulassen, wurde von den Luxemburger Richtern für nichtig erklärt.

AUSGEZEICHNET

Am 28. Mai erhält der Philosoph Rüdiger Safranski den Börne-Preis, auch weil er sich in die aktuelle Debatte um die Einwanderungspolitik von Kanzlerin Merkel einmischte. Wer sich mit Safranskis Ideen und Werken beschäftigt, kann sich diesen Nonkonformismus erklären.

KRITIK AM FUSSBALLZIRKUS

Mehr als die Hälfte heutiger Fußballfans hat vor, sich „früher oder später vom Profifußball abzuwenden, sollte sich die Kommerzialisierung weiterhin so entwickeln“. Das geht aus einer neuen Studie hervor. Danach haben 87 Prozent der Befragten den Eindruck, es gehe beim Fußball „nur noch ums Geld“.

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