Nr. 11 vom 10.3.2017

Nr. 11 vom 10.3.2017

Standpunkt

Das eigentliche Problem

Die deutsche Diskussion um Erdoğan geht am Kern des Problems vorbei. Entscheidend ist nicht so sehr, welchen Hebel Erdoğan einsetzt, ob er zu erpressen versucht oder ob und wie er beleidigt, um ungehemmt auf die in Deutschland lebenden Türken einwirken zu können. Es geht auch nicht darum, ob Erdoğans Ansichten uns gefallen oder nicht. Das alles sind Dinge, die die deutsche Politik kaum beeinflussen kann. Zentral wäre, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Drang einer ausländischen Macht zur Einflussnahme in Deutschland und die Rücksichtslosigkeit bei dessen Durchsetzung von der Größe ihrer hierzulande lebenden Bevölkerungsgruppe abhängen. Ein Wählerreservoir von beträchtlicher Stärke müssen Machtpolitiker einfach auf jede erdenkliche Art bearbeiten.

Die Konfrontation mit Deutschland kommt dem türkischen Staatspräsidenten vor dem Referendum über die von ihm angestrebte Präsidialverfassung gerade recht. Dabei ist das größte Problem noch nicht einmal, dass Erdoğan die Türken in Deutschland, die (auch oder nur) in der Türkei wahlberechtigt sind, für seine Ziele gewinnen will, sondern dass er auch deutsche Wahlen, unter Umständen entscheidend, beeinflussen kann. Das hat unheilvolle Tradition. Schon vor bald zwei Jahrzehnten, 1998, forderte der damalige türkische Ministerpräsident Mesut Yilmaz türkischstämmige Wähler in der Bundesrepublik auf, bei der Bundestagswahl nicht die Christdemokraten zu wählen. Tatsächlich kam die rot-grüne Koalition ans Ruder. Bundeskanzler wurde der Sozialdemokrat Gerhard Schröder, der sich wie sein grüner Partner Joschka Fischer vehement für eine Aufnahme der Türkei in die EU ausgesprochen hatte.

Laut der „Welt“ vom 21. August 1998 erklärte damals Nizamettin Karadaş vom CDU-nahen Deutsch-Türkischen Forum (DTF) in Nordrhein-Westfalen: „Der Einfluss solcher Äußerungen [gemeint war der Aufruf von Yilmaz] ist groß. Sie werden in Moscheen und Vereinen diskutiert und sind Themen in den Medien.“ Der Vorsitzende der Liberalen Türkisch-Deutschen Vereinigung in Berlin, Mehmet Daimagüler, erklärte: „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht als fünfte Kolonne der Türkei gesehen werden.“ Solche Einwände lassen einen Mann wie Erdoğan kalt. Er kümmert sich weder um das Ansehen seiner in Deutschland lebenden Landsleute noch darum, dass er sie tief gespalten hat, geschweige denn um die deutsch-türkischen Beziehungen, die trotz aller Verbeugungen Merkels einen historischen Tiefpunkt erreicht haben.

Masseneinwanderung ruft also massive Einmischung hervor – das wird sich, da sich die deutsche Politik als nicht lernfähig erwiesen hat und an offenen Staatsgrenzen festhält, auch im Falle anderer Herkunftsstaaten bewahrheiten. Die Folge ist eine Vergiftung der internationalen Beziehungen und die Verfälschung des demokratischen Willensbildungsprozesses zumindest im Aufnahmeland.

Immer „überrascht“

Das alles sind keine neuen Erkenntnisse. Aber eine Politik, die bei der Wiedereinführung der Grenzkontrollen am 13. September 2015 bestimmt hat, dass die von Bundespolizeipräsident Dieter Romann minutiös vorbereitete Zurückweisung über sichere Drittstaaten anreisender Asylmigranten unterbleibt (so ist es bis heute), besitzt weder Prognose- noch Transferkompetenz. Man ist immer „überrascht“, auch wenn die Entwicklung noch so deutlich vorhersehbar oder schon lange im Gange ist.

Jürgen Schwaiger

Einige der aktuellen Themen in der Ausgabe vom 10. März 2017

UNBEQUEMES EINHEITSDENKMAL

Dass gut zehn Jahre nach dem entsprechenden Beschluss des Bundestages das Denkmal für die Wiedervereinigung im Herzen der Hauptstadt noch nicht gebaut ist, ist bezeichnend. Nach aktuellem Stand soll der Entwurf „Bürger in Bewegung“ nun endlich kommen, doch die Diskussion reißt nicht ab. Wer will das Freiheits- und Einheitsdenkmal verhindern?

HÄUTET SICH DIE EU?

Schuldenkrise, Eurokrise, Bankenkrise, Migrationskrise, Brexit und nicht mehr auszuschließender Grexit oder gar Frexit und Italexit – keine Frage, die Europäische Union steckt in einer existenziellen Krise. Kommissionspräsident Juncker spielt verschiedene Szenarien durch und will den Zerfall der EU verhindern.

EINE PARTEI IM SINKFLUG

Wählt eigentlich noch jemand „grün“? Außerhalb ihrer Stammwählerschaft scheinen die „Grünen“ kaum noch Stimmen gewinnen zu können. Der einstigen Öko- und Protestpartei fehlt das Kernthema, das sie aus dem Umfragetief führen würde. Und in der für die Bundestagswahl entscheidenden Migrationsfrage haben sich die „Grünen“ weit vom Volk entfernt.

WAS WIRD AUS KATALONIEN?

2017 wird als Jahr weitreichender politischer Weichenstellungen wahrgenommen. Auch in Katalonien? Im Umfeld des nächsten Nationalfeiertags soll ein Unabhängigkeitsreferendum abgehalten werden.

FÜR GLEICHES RECHT

Deutsche können kollektiv beschimpft werden, ohne dass das strafrechtlich von Belang ist. Dabei gibt es zunehmend Forderungen, dass auch „inländerfeindliche Diffamierungen“ als Volksverhetzung strafbar werden sollen. Lehren aus einem aktuellen Fall.

DER DRESDNER NORDFRIEDHOF

Um den früheren Garnisonfriedhof und seinen Ehrenhain für im Ersten Weltkrieg Gefallene ist eine respektvolle Debatte entstanden. Es geht dabei auch darum, einen Weg zu finden, „der die stille Würde der Anlage“ am Ende „mit den Herausforderungen einer modernen Zeit glücklich zu verbinden weiß“.

TÖNNIES‘ MAHNUNG

Was passiert, wenn die Gemeinschaft schwindet? Vor 130 Jahren stellte der Soziologe Ferdinand Tönnies in seinem bahnbrechenden Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ zwei soziologische Grundbegriffe gegenüber. Die Gedanken des großen Gelehrten, dem als Sozialdemokraten 1933 seine Professur genommen wurde, sind aktueller denn je.

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